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ADB:Geiger, Abraham

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Artikel „Geiger, Abraham“ von Jakob Auerbach in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 8 (1878), S. 786–793, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Geiger,_Abraham&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 04:24 Uhr UTC)
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Geiger *): Abraham G., hervorragender jüdischer Theolog, geb. 24. Mai 1810 zu Frankfurt a/M., † 23. Oct. 1874 zu Berlin. Einer streng orthodoxen Familie angehörend, in der rabbinische Gelehrsamkeit heimisch war, wurde der durch Geistesanlagen ausgezeichnete Knabe schon in der ersten Jugendzeit im jüdischen Schriftthum unterrichtet. Er lernte Hebräisch lesen, als er kaum drei Jahre alt war, wurde bald hernach in die hebräische Bibel, schon in seinem vierten Jahre in die älteren und einfacheren Bestandtheile des Talmuds (Mischna) und in seinem sechsten Jahre in die späteren Entwickelungen desselben (Gemara oder Talmud im engeren Sinne) eingeführt. Mit dieser äußerst frühzeitigen, von den Eltern als frommes Werk betrachteten Unterweisung kam man zugleich der außergewöhnlichen Wißbegierde und Fassungsgabe des Knaben entgegen. Außer seinem talmudisch gelehrten Vater (Michael Lazarus G., geb. 1755, † im April 1823) unterrichtete ihn hauptsächlich sein ältester Bruder (Salomon G., geb. 1792, † am 4. Sept. 1878, Vater von Lazarus G.), der eine von den Spitzfindigkeiten der meisten damaligen Talmudisten entfernte Methode befolgte und ihm schon gleichzeitig mit dem Hebräischlesen auch das Deutschlesen beibrachte. Dem fortgesetzten Unterrichte dieses scharfsinnigen Talmudgelehrten, dessen ausgebreitetes Wissen auch die alten hebräischen Grammatiker und Exegeten umfaßte, verdankte G. die frühzeitige Orientirung und die feste Grundlage auf dem Gebiete der jüdischen Theologie, zu deren Studium es damals – von einigen älteren, meist unbeachtet gebliebenen Werken abgesehen – an jeder systematischen Anleitung fehlte. Neben dem ausgezeichneten Talmudgelehrten R. Aaron Fuld förderte ihn in seinen theologischen Vorstudien besonders auch der in dem benachbarten Rödelheim wohnende Wolf Heidenheim (s. d. Art.). Von seinem elften Jahre an ließ man ihm Privatunterricht im Lateinischen und Griechischen und nebenbei auch im Deutschen ertheilen. Durch die von nun an neben den rabbinischen Studien fortgesetzte Beschäftigung mit den classischen Sprachen und anderen wissenschaftlichen Gegenständen, wie durch die Lectüre der deutschen Classiker und durch den freundschaftlichen Verkehr mit einigen strebsamen, nach freien religiösen Ansichten erzogenen Altersgenossen, entwickelte sich in ihm ein selbständiges Geistesleben. In dem elfjährigen Knaben waren bereits religiöse Zweifel erwacht, die er zwar gewaltsam niederdrückte, aber nicht für die Dauer besiegen konnte. Er war dabei in der Lage, daß er seine Gesinnungen vor seiner nächsten Umgebung verbergen mußte, was um so peinlicher für ihn war, da man ihn von früher Jugend an für den theologischen Beruf bestimmt hatte, zu dem er sich auch durch seinen religiösen Sinn und durch die tief in ihm wurzelnde Anhänglichkeit an die – nach seiner sich allmählich befestigenden Ueberzeugung – nur durch hemmende und trübende Einwirkungen einer traurigen Vergangenheit entstellte väterliche Religion hingezogen fühlte. Frühe schon berührte ihn auch der Kampf für die bürgerliche Gleichstellung, den die Juden in den deutschen Ländern und insbesondere auch in Frankfurt a/M. viele Jahre hindurch führen mußten, und nicht minder das bei dem fortgeschrittenen [787] Theile derselben herrschende Streben nach religiösen Reformen, in welcher Hinsicht besonders auch Johlson und Michael Creizenach auf ihn einwirkten. Wie so manche jüdische Jünglinge, begeisterte ihn der Gedanke, einst für die Hebung seiner Glaubensgenossen und die Läuterung des Judenthums wirken zu können, und dieses Ziel erstrebend, blieb er beim Studium der Theologie. Neben dem Hebräischen beschäftigte er sich eifrig mit dem Chaldäischen und Syrischen, von dem er dann auch zum Arabischen überging, und lange (zuletzt noch im Herbst 1829) schwankte er, ob er sich nicht ausschließlich dem Studium der semitischen Sprachen widmen solle. Aber auch für das eigentliche theologische Fach war ein lebhaftes wissenschaftliches Interesse in ihm rege. Er studirte die Schriften des Maimonides und anderer jüdischer Philosophen, besonders auch in geschichtlicher Hinsicht und suchte sich überhaupt in der damals noch wenig aufgehellten Geschichte des Judenthums (Jost’s größeres Werk erschien 1820–29; eine bahnbrechende Arbeit von Zunz brachte die 1822–23 erschienene „Zeitschrift für Wissensch. d. Judenthums“) zu orientiren. Er war 17 Jahre alt, als er mit gereiftem wissenschaftlichen Sinn eine den Talmud betreffende Arbeit unternahm, die ganz außerhalb des Kreises der gewöhnlichen Fachgelehrten lag. Er sammelte Materialien zu einer Grammatik und einem Wörterbuche über die Mischna und verfolgte dabei die vorher kaum beachtete Fortentwicklung der hebräischen Sprache. (Ein hierauf bezügliches Werk Landau’s kam ihm erst 1828 zu Gesichte; eine den Gegenstand betreffende Schrift A. Th. Hartmann’s erst im Herbst 1829. Ersteres wurde von ihm alsbald als eine oberflächliche Arbeit erkannt und kritisirt. – Im Biblischen hatten Herder und Eichhorn frühe auf ihn eingewirkt.) Neben der sprachwissenschaftlichen Arbeit unternahm er auch einen (hebräischen) Commentar über die Mischna, bei dem er von einer völlig neuen Auffassung der talmudischen Gesetzesentwicklung ausging. Mit kritischem Scharfblicke erkannte er bereits damals, daß die Mischna in der auf ihr beruhenden Gemara nicht selten abweichend von dem ursprünglichen Sinne aufgefaßt wird, und demgemäß versuchte er eine von der späteren gemaristischen Deutung unabhängige Erklärung derselben. Der Commentar wurde zwar bald wieder von ihm aufgegeben; er begann aber damit seine im Verlaufe seiner schriftstellerischen Thätigkeit von ihm geltend gemachte tief einschneidende Kritik und vorurtheilslose geschichtliche Auffassung des rabbinisch-talmudischen Judenthums, das in seiner Erstarrung sich als festes, bis zu den kleinsten Einzelnheiten herab unlösbar zusammenhängendes Gefüge darstellt und daher als folgerichtige traditionelle Auslegung des biblischen Gesetzes betrachtet wurde. An dem Werke über die Sprache der Mischna arbeitete er – mit Unterbrechungen – noch in späteren Jahren; es wurde aber durch andere Arbeiten immer mehr zurückgedrängt und blieb unvollendet. Doch ist daraus sein treffliches „Lehr- und Lesebuch zur Sprache der Mischna“ (1845) hervorgegangen. – Es war damals schon ziemlich allgemein, daß Studirende der jüdischen Theologie, nachdem sie sich die für ihr künftiges Amt erforderlichen rabbinischen Kenntnisse angeeignet hatten, zum Zwecke ihrer höheren wissenschaftlichen Ausbildung eine Universität besuchten. Einige Freunde verschafften G., dessen Familie in ziemlich beschränkten Verhältnissen lebte, eine Unterstützung für die Zeit seines akademischen Studiums, und im April 1829 bezog er die Universität Heidelberg. Er hörte dort Vorlesungen von Umbreit, Daub, Creuzer, K. Fr. Hermann und Schlosser, von denen die beiden letzteren ihn am meisten anregten. Hauptgegenstand seiner Studien waren die semitischen Sprachen, für welche er aber größtentheils auf seinen Privatfleiß angewiesen war. Er verließ Heidelberg schon zu Ende des ersten Semesters und studirte dann bis Juni 1832 zu Bonn. Er hörte dort die Vorlesungen von Welcker, Brandis; Calker, [788] Bobrik, Delbrück u. A. und beschäftigte sich unter Freytag’s Anleitung fleißig mit dem Arabischen. Der selbstbewußte, geisteskräftige junge Mann, in dem auch der lange zurückgedrängte jugendliche Frohsinn hervortrat, gelangte während dieser Zeit zu immer größerer Reife. Bald nach seiner Ankunft in Bonn entschied er sich aus innerem Antriebe für den theologischen Beruf. Er beklagte längst, daß die jüdischen Theologen auf der Universität keine Anleitung für ihr specielles Fach fanden und daher ganz rathlos dastanden, war aber um so mehr bemüht, sich in der von ihm erwählten Wissenschaft, die – genau genommen – erst geschaffen werden mußte, selbst den Weg zu bahnen. Sein offenes, freimüthiges und heiteres Wesen gewann ihm die Herzen strebsamer Studiengenossen, und hauptsächlich durch seine Anregung vereinigten sich einige junge jüdische Theologen zu einem engeren freundschaftlichen und wissenschaftlichen Kreise und suchten sich gegenseitig die fehlende Führung zu ersetzen. In seinem letzten Studienjahre bearbeitete G. eine auf Veranlassung Freytag’s (unzweifelhaft mit Rücksicht auf Studirende der jüdischen Theologie) von der philosophischen Facultät gestellte Preisaufgabe über die jüdischen Quellen des Koran. Er erhielt (im August 1832) den Preis für seine Arbeit und veröffentlichte sie dann (1833, wo er schon im Amte war) in erweiterter Gestalt unter dem Titel: „Was hat Mohammed aus dem Judenthum aufgenommen?“ Mit dieser ebensowol von gründlicher Gelehrsamkeit, als von kritischem Geiste zeugenden Schrift, die bei den hervorragendsten Fachgelehrten rühmliche Anerkennung fand, verwerthete er seine rabbinischen Kenntnisse für die allgemeine Wissenschaft und betrat demnach bereits einen bei seinen späteren Forschungen von ihm verfolgten Weg.

Bald nach seinem Abgange von der Universität (am 21. November 1832) wurde G. von der jüdischen Gemeinde zu Wiesbaden zum Rabbiner gewählt. Er widmete sich seinem Amte mit freudiger Hingebung, suchte durch allsabbathliche Predigten und durch den Religionsunterricht der Jugend für geläuterte Religiosität zu wirken, führte auch einige Verbesserungen beim öffentlichen Gottesdienste ein, faßte aber seine Stellung in der kleinen Gemeinde zugleich im Hinblicke auf die jüdische Gesammtheit auf. Nach seiner Ansicht sollte der Rabbiner der Neuzeit ein Vertreter wissenschaftlicher Erkenntniß sein und demgemäß die Autorität der alten Rabbiner, die wesentlich auf talmudischer Gelehrsamkeit beruhte, für sein Amt zu gewinnen suchen. In diesem Sinne betrachtete G. jederzeit die wissenschaftliche Thätigkeit ebensosehr wie die eigentlich amtliche als Aufgabe seines Berufs.

Durch die Arbeiten Luzzatto’s und Rapoport’s, ganz besonders aber durch das bahnbrechende Werk: „Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, historisch entwickelt“ von Zunz (1832), waren für die Wissenschaft des Judenthums neue und feste Grundlagen gewonnen. Das 1830 in Deutschland erwachte politische Leben hatte (1831) Riesser auf den Kampfplatz gerufen; die Juden kämpften mit dem vollen Bewußtsein ihres Rechtes und der ihren Vorkämpfer auszeichnenden sittlichen Würde für ihre Gleichberechtigung, die nunmehr zum Gegenstande allgemeiner Freiheitsbestrebungen erhoben wurde. Unter solchen Bewegungen, von denen der intelligente Theil der Juden tief ergriffen war, begann G. seine Wirksamkeit auf dem Boden des Judenthums selbst, faßte dessen Aufgabe unter den neuen Zeitverhältnissen ins Auge und forderte zur Heilung seiner Schäden auf, die nur durch „Glaubensinnigkeit“ und durch strenge, keinen Zwiespalt zwischen dem Leben und der fortgeschrittenen Ueberzeugung duldende Wahrhaftigkeit zu erzielen sei. Er trat mit gleicher Entschiedenheit der „Formgläubigkeit“ einer starren Orthodoxie, wie den verflachenden, die Vergangenheit negirenden Bestrebungen vieler Aufgeklärten entgegen, welche die im Laufe der Jahrhunderte entstandene Gestaltung des Judenthums einfach dem Zerfalle preisgeben wollten. Diese reformatorische Richtung traf mit seiner wissenschaftlichen zusammen. [789] Der eingetretenen Erstarrung gegenüber sollte vor allem das geschichtliche Bewußtsein geweckt werden, das im alten Judenthum beinahe völlig erloschen war und z. B. einem Maimonides und dem in der Neuzeit hervorragenden Moses Mendelssohn fehlte. Bei dem Kampfe gegen das altorthodoxe System handelte es sich hauptsächlich um den Nachweis, daß das biblisch-talmudische Gesetz keineswegs von Anfang an unveränderlich feststand, sondern seine innere Geschichte hat. Auf die Erforschung dieser Geschichte nach den sie bewegenden Lebenstrieben war hauptsächlich Geiger’s wissenschaftliche Thätigkeit gerichtet.

Anregung zu gemeinsamer eifriger Thätigkeit gehörte zum Wesen Geiger’s. Die wenigen jüdischen Gelehrten, welche die Wissenschaft des Judenthums bearbeiteten, sowie die freidenkenden Rabbiner und Prediger, die in einigen Gemeinden wirkten, standen ganz vereinzelt; es fehlte ein Organ für die gemeinschaftlichen wissenschaftlichen und praktischen Zwecke. G. hatte schon im April 1831 sich an Zunz gewandt (die unter dessen Redaction 1822–23 erschienene „Zeitschrift für Wissenschaft des Judenthums“ war schon mit dem 3. Hefte wieder eingegangen) und vergeblich versucht, ihn zur Herausgabe einer neuen Zeitschrift für jüdische Angelegenheiten zu bewegen. Im dritten Jahre seiner amtlichen Stellung unternahm er selbst die Ausführung des lange erwogenen Plans, sicherte sich die Mitwirkung anerkannter älterer Gelehrten und aufstrebender jüngerer Kräfte, trat mit begeisterungsvollem Streben an die Spitze und gründete die „Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie“, die nach allen Seiten hin, sowol in Gemeinden als bei Theologen, ungewöhnlich tief einwirkte. Die Zeitschrift (5 Bde. und 3 Hefte eines 6. Bds., 1835–47) erschien mit der Bezeichnung: „Herausgegeben von einem Vereine jüdischer Gelehrter durch A. G.“, was jedoch nur im Sinne gemeinsamer Bestrebungen zu verstehen ist. Sie enthielt gediegene Beiträge der Mitarbeiter, war aber hauptsächlich das Werk des Herausgebers. Sie hat die freigesinnten Rabbiner zum Kampfe für den Fortschritt im Judenthum ermuthigt und um G. als ihren Führer geschaart. Durch ihn veranlaßt, fand zu Wiesbaden (1837) eine Zusammenkunft von strebsamen Berufsgenossen statt, die sich zunächst zum entschiedenen Vorgehen gegen die störendsten Mißstände vereinigten. Dadurch wurde die Anregung zu den Rabbinerversammlungen zu Braunschweig (1844), Frankfurt a. M. (1845) und Breslau (1846) und zu den sich an sie anschließenden sog. Synoden zu Leipzig (1869) und Augsburg (1872) gegeben. Mit der Zeitschrift eröffnete G. (von der Preisschrift abgesehen) den ersten Abschnitt seiner schriftstellerischen Thätigkeit. Diese war – neben der beinahe ununterbrochenen Besprechung der religiösen Angelegenheiten und unter aufmerksamer Beachtung der Zeiterscheinungen, besonders auch in der christlichen Theologie – zunächst auf die Geschichte des Judenthums im Mittelalter, auf wichtige den Talmud betreffende Fragen, auf sprachwissenschaftliche und manche andere Gegenstände aus dem Bereiche der jüdischen Theologie gerichtet und streifte mit einzelnen Bemerkungen auch schon in die biblische Kritik hinüber, wandte sich aber dann in dem zweiten bis an sein Lebensende reichenden Abschnitte vorherrschend dem letzteren, vor ihm seit Aben Esra und Spinoza kaum wieder von einem Juden, am wenigsten von einem Rabbiner betretenen Gebiete zu. Eine große Zahl von Abhandlungen, Monographien, umfassenderen Schriften, Recensionen und anderen größeren oder kleineren Arbeiten (mehrere in der „Ztschr. der D. M. Gesellschaft“, einige wichtige auch in hebräischen Zeitschriften, gesammelt von R. Kirchheim, als Anhang zu den „Nachgelassenen Schriften“) sind die Frucht seines unausgesetzten Fleißes und seiner stets schlagfertigen Rüstigkeit. Bei eifriger Berufsthätigkeit und manchen mehr oder weniger damit zusammenhängenden Beschäftigungen (u. a. auch Vorlesungen; in seinen drei letzten Lebensjahren vereinigte er mit seinen Functionen als Rabbiner sogar die volle Thätigkeit eines akademischen Lehrers) fand er immer noch Zeit [790] für seine wissenschaftlichen Forschungen. Nur ungern entschloß er sich (1847), seine Zeitschrift eingehen zu lassen. Um die entstandene Lücke auszufüllen, nahm er sie nach einem Zwischenraume von 15 Jahren wieder auf, jedoch mit theilweise verändertem Plane. Seiner damaligen Richtung entsprechend, wandte er sich in der Ankündigung des neuen Organs, das unter dem Titel: „Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben“ erschien (11 Bde., 1862–75; das letzte Heft wurde nach Geiger’s Tod mit einem warmen, ihn treffend charakterisirenden Nachruf von seinem Freunde J. Derenburg [WS 1] ausgegeben), vornehmlich auch „an die Bibelforscher aller Confessionen“.

Im Juli 1838 schied G. von seiner Gemeinde zu Wiesbaden. Er hatte sein spärlich besoldetes Amt niedergelegt, wurde aber bald nachher nach Breslau berufen. Erst im Dec. 1839 konnte er seine Stelle in der dortigen Gemeinde antreten, weil die altorthodoxe Gegenpartei die dazu erforderliche Naturalisation mit allen Mitteln zu verhindern suchte. Er hielt sich in der Zwischenzeit zu Berlin auf, wo er sich mit wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigte. Die seiner Anstellung entgegenstehenden Hindernisse konnten bei dem damaligen Stande jüdischer Angelegenheiten in Preußen nur mit vieler Mühe und nach langwierigen Verhandlungen beseitigt werden. Nach dem Antritte seines Amtes verheirathete sich G. mit einem Mädchen, dem er schon auf der Universität zu Bonn seine Neigung zugewandt hatte. (Er hatte sich bereits im Mai 1838 verlobt. Die durch Anmuth und edle Weiblichkeit ausgezeichnete Lebensgefährtin wurde ihm im December 1860 durch den Tod entrissen.) Zu Breslau hatte G. jahrelange Kämpfe mit den altorthodoxen Gegnern zu bestehen; er wurde aber dadurch in seiner immer tiefer eingreifenden Wirksamkeit kaum gehemmt und fühlte sich beglückt durch die Verehrung und Liebe des überwiegenden Theils seiner Gemeinde. Er gründete dort eine Religionsschule, einen Lehr- und Leseverein, betheiligte sich an den Bestrebungen anderer gemeinnütziger Vereine, wie auch an öffentlichen Angelegenheiten und hielt eine Zeit lang Vorlesungen für Studirende der jüdischen Theologie. In letzterer Hinsicht hatte er Hoffnung, einen längst von ihm gehegten, für die Wissenschaft des Judenthums und die Fortentwicklung desselben höchst wichtigen Plan ganz in seinem Sinne verwirklicht zu sehen. Er hatte den II. Band seiner ersten Zeitschrift mit einer Aufforderung zur Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät eröffnet. Die dahin gerichteten Bestrebungen waren erfolglos geblieben. Ein Mitglied der Breslauer Gemeinde aber, ein warmer Verehrer Geiger’s (Jonas Fränkel, gest. 27. Jan. 1846) bestimmte durch letztwillige Verfügung einen großen Theil seines sehr beträchtlichen Vermögens (neben anderen großartigen Stiftungen, die theilweise schon bei seinen Lebzeiten in Ausführung kamen) für die Stiftung einer Anstalt zur Heranbildung jüdischer Theologen. An einem derartigen wissenschaftlichen Institute wirken zu können, war Geiger’s sehnlicher Wunsch, und wie er dazu ganz besonders den Beruf in sich fühlte, so hatte auch der Stifter unzweifelhaft ihn und seine Richtung im Auge. Als aber die Anstalt ins Leben gerufen wurde, übergingen ihn die Testamentsexecutoren und beriefen einen conservativen Leiter. Dieser Umstand trug dazu bei, daß G. einem von dem Vorstande der israelitischen Gemeinde seiner Vaterstadt an ihn ergangenen Rufe folgte und das dortige Rabbinat annahm. Er bekleidete sein Amt zu Frankfurt a. M. vom August 1863 bis Ende 1869, wo er als Rabbiner nach Berlin berufen wurde. Zur Annahme dieser neuen Stelle bewog ihn u. a. auch die Aussicht auf die Wirksamkeit an der „Hochschule für Wissenschaft des Judenthums, deren Errichtung zu Berlin damals schon ziemlich gesichert war und die denn auch im Mai 1872 eröffnet wurde. Sie gewann in ihm den ausgezeichneten Lehrer, bot ihm aber auch in seinen letzten Lebensjahren noch die Gelegenheit zur ganzen Entfaltung seiner Kraft, in deren Vollgefühl er noch stand, als ihn ein plötzlicher Tod ereilte.

[791] Man kann von G. sagen, daß er eine jüdische Theologie angebahnt hat, die wesentlich Geschichte wäre und einen Theil der allgemeinen Wissenschaft des Geisteslebens bilden würde. Er hat auch (vornehmlich in seinen letzten Jahren, zunächst mit Bezug auf die Schriften von Renan und Strauß) Fragen der christlichen Theologie von seinem Standpunkte aus besprochen. Ist er dabei auch nicht von Einseitigkeiten frei geblieben, so mußten doch die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Untersuchungen, soweit sie das Grenzgebiet der Geschichte des Judenthums und der Geschichte des Christenthums berühren, und nicht minder die Aufschlüsse, die er über die Geschichte des hebräischen Bibeltextes gegeben hat, auch von christlichen Theologen berücksichtigt werden. Mit lebendiger Intuition geschichtlicher Vorgänge begabt, wußte G. sich in Zeiträume und Charaktere zu versetzen und stellte dann aus den seiner Gelehrsamkeit zu Gebote stehenden, kritisch von ihm gesichteten Einzelheiten, nicht selten nach rascher, von einem wichtigen Momente ausgehender und nachher genauer begründeter Conception, ein lebensvolles Gesammtbild zusammen. Mochte er sich dabei auch hin und wieder einer zu weit gehenden Conjectur hingeben, so hat er doch auf diesem Wege genialer Auffassung, der ja schon zu so manchen wichtigen Entdeckungen geführt hat, überraschend neue Gesichtspunkte auf dem von ihm durchforschten Gebiete aufgehellt. Er hat ganz entlegene casuistische Erörterungen des Talmuds und verwandter Schriften zum ersten Male in deutscher Sprache behandelt und für die Geschichte verwerthet. In vorher völlig unbeachtet gebliebenen oder mißverstandenen Angaben, die in diesen Werken erhalten sind, aber als Trümmer früherer Zeiten unter späteren Schichten vergraben waren, in den alten Bibelübersetzungen, sowie in dem überlieferten Texte der hebräischen Bibel selbst hat er die Zeugnisse verschiedener Phasen der Entwicklung gefunden und aufgezeigt. Abweichend von der gewöhnlichen Ansicht, welche im Pharisäismus und dem aus ihm hervorgegangenen Talmud nur Verknöcherung, Werk- und Scheinheiligkeit erblickte, ging G. schon bei seinem ersten Auftreten (Wissensch. Ztschr. I. 36 u. a. anderen St.) davon aus, daß gerade die Pharisäer, indem sie das biblische Gesetz in eigenthümlicher, vom natürlichen Schriftsinne abweichender Weise deuteten und neue Bestimmungen hinzufügten, im Geiste der biblischen Vorschriften wirkten und das Bedürfniß ihrer Zeit berücksichtigten (sie folgten dabei freilich mehr einem unbewußten geschichtlichen Drange, was von G. nicht immer hinreichend hervorgehoben und nachher von Anderen völlig ignorirt wurde), während die Sadduzäer sich an den Wortlaut hielten und dem Stillstande huldigten. Wurde im alten Judenthum die im Talmud aufgezeichnete Tradition als die einzig richtige und für alle Zukunft geltende Auslegung der Bibel betrachtet, so war sie nach Geiger’s Auffassung der zeitliche Ausdruck des allgemeinen Princips eines lebendigen Fortschritts und leitete er aus ihr auch die Berechtigung zu weiterer Entwicklung unter den nun völlig veränderten Zeitverhältnissen her. (Man mag hiebei an Lessing denken, dessen Streitschriften gegen Goeze G. in Bonn mit lebhaftem Interesse gelesen hatte; doch hat Lessing sich dem Buchstabenglauben gegenüber in ganz anderem Sinne auf die Tradition berufen.) Später vertiefte G. die ursprüngliche Grundanschauung in seinem Hauptwerke: „Urschrift und Uebersetzungen der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der inneren Entwicklung des Judenthums“. Mit diesem 1854 von ihm begonnenen, 1857 (also am Ende einer fünfundzwanzigjährigen Wirksamkeit) vollendeten Werke hat G. den zweiten Abschnitt seiner wissenschaftlichen Thätigkeit begonnen und bahnbrechend im Gebiete der biblischen Kritik gewirkt. Ein Ergebniß dieser Forschungen war auch die Abhandlung: „Pharisäer und Sadduzäer“, welche das 2. Heft des 2. Bandes der „Jüdischen Zeitschrift“ brachte. Seine frühere Auffassung modificirte G. dahin, daß in den sog. Secten der Pharisäer und Sadduzäer sich ältere religiöse und politische Parteikämpfe fortsetzten, indem letztere das auf dem Adel der Geburt [792] beruhende und darauf die Herrschaft begründende Priesterthum vertraten, ihre Gegner aber die priesterlichen Vorrechte möglichst zu beschränken trachteten und die den Priestern zugeschriebene ausschließliche Heiligkeit für das ganze Volk in Anspruch nahmen. Von größter Wichtigkeit war dabei der Nachweis, daß der Bibeltext lange tendenziösen, durch die im Judenthume damals herrschenden Zeitbestrebungen veranlaßten Aenderungen unterlag, diese aber dann zum großen Theile wieder beseitigt wurden, so daß derselbe uns im Ganzen in richtiger Gestalt vorliegt. Die auffallende Thatsache, daß alte Bibelübersetzungen, obgleich im Uebrigen mit unserem hebräischen Texte übereinstimmend, doch an einzelnen Stellen von ihm abweichen, wurde erst von G. völlig aufgeklärt, indem er zeigte, daß solche Verschiedenheiten nicht selten von Abänderungen des Grundtextes herrühren. Seine große Vertrautheit mit den aramäischen Dialecten und andere Detailkenntnisse boten ihm treffliche Mittel zu solchen und ähnlichen Forschungen. Nachdem er einmal die Bibel zum Hauptgegenstande seiner wissenschaftlichen Thätigkeit gemacht hatte, ging er auch tiefer auf die sie betreffenden Fragen der Kritik ein, wobei er ebenfalls (mehr als in den gewöhnlichen Urkundentheorien zu geschehen pflegt) den geschichtlichen Weg betrat. Die Resultate dieser Untersuchungen, zu denen er besonders durch die Vorträge an der „Hochschule“ veranlaßt wurde, sind (freilich nur lückenhaft und hauptsächlich nach Aufzeichnungen seiner Schüler) in den betreffenden gedruckten Vorlesungen (Nachgelassene Schriften II. u. IV.) enthalten und harren noch der gründlichen Prüfung. – G. legte seine wissenschaftlichen Ansichten stets unumwunden dar, wie sehr er auch dadurch in Widerspruch mit der herrschenden Meinung gerieth; in seiner praktischen Wirksamkeit ging er schonend vom Bestehenden aus und erstrebte die Fortentwicklung durch den zu belebenden schaffenden Geist, forderte aber auch wieder, daß hemmende Fesseln beseitigt und veraltete Formen umgestaltet werden (vgl. u. a. den Artikel aus der Wissenschaftlichen Zeitschrift: „Der Schriftsteller und der Rabbiner“, Nachgelassene Schriften, I.). Er forderte wissenschaftliche Erörterung und freute sich, wenn auch die Gegner in würdiger Weise auf den Kampfplatz traten (s. z. B. die Recension einer wichtigen, vom altorthodoxen Standpunkte ausgehenden Schrift, Wissenschaftliche Zeitschrift II. 351 ff.). Einen eigentlichen Plan von der künftigen Gestaltung des Judenthums hat er nicht aufgestellt; er lebte aber der Ueberzeugung, daß sich in der Zukunft auch die rechte Form herausbilden werde, wenn nur die von der Religion unzertrennliche Erkenntniß durchgedrungen ist. Dieser Gedanke leitete ihn auch bei seinen geschichtlichen Arbeiten; denn die Geschichte, wie er sie auffaßte, soll nicht auf die erstorbene Vergangenheit hinweisen, um sie wieder herzustellen, sondern nach den in ihr verborgenen Lebenskeimen forschen, um sie für die Gegenwart zu befruchten. „Was die Wissenschaft“, so schrieb er im Vorworte zu seinem kühnsten und bedeutendsten Werke: „Urschrift“ etc., „als eine geschichtliche Wahrheit für die Vergangenheit aufnimmt, das muß sie dann auch als einen neuen Fruchtkeim ausstreuen für die Fortentwicklung des Judenthums. Wenn der Boden der Geschichte aufgelockert wird und die Mächte aufgewiesen werden, die unablässig an ihm gearbeitet haben: so muß auch weiter der geschichtliche Trieb wieder lebendig werden und der Lebenssaft weiter den Stamm durchströmen, um in neuer Frische geistige Früchte zu erzeugen.“ – Von den Schriften Geiger’s nennen wir nur noch die Vorlesungen: „Das Judenthum und seine Geschichte“ (3 Bde., 1864 [2. Aufl. 1865]. 1865. 1871).

Jost, Neuere Gesch. d. Isr., III. – Abraham Geiger. Ein Gedenkblatt von Berthold Auerbach (Gegenwart, VI. Nr. 45). – Der obenerwähnte „Nachruf“ v. J. Derenburg. – Eine Erinnerung an frühere Zeiten v. A. G. (Nachgel. Schriften I. 296 ff.) – Nachgel. Schriften V., wovon eine Separatausgabe [793] u. d. T.: A. Geiger’s Leben in Briefen. Herausgeg. v. Ludwig Geiger (1878).

[786] *) Zu Seite 506.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Joseph Derenb(o)urg (1811–1895), Orientalist, Sanskritist.