ADB:Rapoport, Salomo Jehuda Löb
[284] sich auch bald mit der exegetischen und poetischen Litteratur der Mendelssohn’schen Schule, die auch in seinem Vaterlande schon Eingang gefunden hatte, bekannt zu machen. Das erste Product seiner talmudischen Forschungen waren Bemerkungen zu den unter dem Titel „Abne Milluim“ erschienenen eherechtlichen Untersuchungen seines Schwiegervaters Arje b. Joseph, die diesem Werke beigegeben wurden. Da R. als Sohn unbemittelter Eltern zwangsweise ins Militär eingestellt werden sollte, sah er sich genöthigt, in ein kleines galizisches Städtchen zu flüchten, in welchem er mehrere Monate hindurch unfreiwilligen Aufenthalt nehmen mußte. Dort lernte ihn ein gebildeter Officier kennen, der in dem jungen geistvollen Mann einen lebendigen Wissensdrang entdeckte und, indem er sich auch sonst seiner annahm, ihm Unterricht im Französischen ertheilte. Das später von R. veröffentlichte Drama: „Der Ueberrest Jehudas“ (Wien 1827), eine hebräische Bearbeitung von Racine’s „Esther“, ist seiner dadurch veranlaßten Beschäftigung mit der französischen Litteratur zu verdanken. Von nachhaltigem Einflusse auf die weitere Richtung seiner epochemachend gewordenen schriftstellerischen Thätigkeit war die Bekanntschaft mit Bayle’s Dictionnaire historique critique, das ihm der Zufall in die Hand führte. R. faßte nun den Plan, ein ähnliches jüdisch-geschichtliches Werk zu schaffen, das Biographien hervorragender Persönlichkeiten der Judenheit, gestützt auf kritische Erörterung und Vergleichung der vorhandenen Quellen, enthalten sollte. Es lag ihm besonders daran, die gesammte hebräische Litteratur zu diesem Zwecke zu durchforschen und namentlich über die für die Entwicklungsgeschichte des mittelalterlichen Judenthums so wichtige Gaonenperiode, deren Kenntniß ganz im Dunkeln lag, Licht zu verbreiten. Neben dieser Aufgabe, ein historisch-biographisches Werk (Toldot Ansche Schem) zu schreiben, beschäftigte ihn zugleich auch der Plan, ein archäologisches Leikon zur talmudischen Litteratur (Erech Millin) auszuarbeiten. Da eine Geschichtswissenschaft auf dem Gebiete des Judenthums bis dahin noch nicht bestand, wurde R., schon dadurch, daß er ihre Quellen aufsuchte und ihre Methode in Anwendung brachte, auf diesem Feld der eigentliche Begründer derselben. Großes und gerechtes Aufsehen erregten daher die in der Zeitschrift Bikkure ha-Ittim von ihm veröffentlichten Biographien der ältesten nachtalmudischen Schriftsteller, die in ihm einen der größten Kenner der hebräischen Litteratur und zugleich auch einen Meister wissenschaftlicher Kritik erkennen ließen. Hatte der mit dem gesammten jüdischen Schriftthum vertraute R. in denselben zahlreiche verborgene und verschlossene Quellen jüdischer Geschichtskunde nachgewiesen, so war besonders die gründliche und sorgfältige Vergleichung derselben und der tiefeindringende Scharfblick, von dem hier seine geniale Combinationsgabe geleitet schien, wie auch die Fülle reichlicher Nachweise, die über die Entwicklung der nachtalmudischen Litteratur des Judenthums in ihren verschiedenen Auszweigungen überraschenden Aufschluß gaben, darnach angethan, diesen Arbeiten für die jüdische Wissenschaft eine grundlegende Bedeutung zu verleihen. Die Biographien, die Franz Delitzsch „Diamantengruben für den Geschichtsschreiber jüdischer Litteraturen“ nennt, erwarben R. viele Freunde und Verehrer, von denen besonders S. D. Luzzatto und L. Zunz, die von nun an mit R. einen für die jüdische Wissenschaft äußerst gewinnreich gewordenen litterarischen Briefwechsel unterhielten, besonders zu nennen sind, aber er fand auch wegen der wissenschaftlichen Methode, die er einschlug, in seiner Heimathsstadt Lemberg, in der er noch immer als Privatmann in sehr bescheidenen Verhältnissen lebte, die heftigsten Widersacher. Eine zelotische Partei, an deren Spitze der Ortsrabbiner Jakob Ornstein, in dessen Werke er zahlreiche Plagiate nachgewiesen hatte, stand, wurde nicht müde, den weithin anerkannten Gelehrten wegen seiner auf den Bahnen der Kritik sich bewegenden aber keineswegs heterodoxen Richtung [285] in verletzender Weise zu verfolgen. R. hatte sich längere Zeit vergeblich nach einer Rabbinerstelle umgesehen und wurde endlich, nachdem eine Aussicht, eine solche in Groß-Kanisza (Ungarn) zu erlangen, mißglückt war, durch die erfolgreichen Bemühungen des aufgeklärten Joseph Perl als Rabbiner nach Tarnopol berufen, wo er in dem am 13. Januar 1838 gehaltenen (nach seinem Tode veröffentlichten) Antrittsvortrage (Thorn 1877) seine überragende Meisterschaft in gehaltvoller und systematischer Behandlung talmudischer Themata bekundete. Die Ausübung seiner rabbinischen Wirksamkeit wurde ihm aber in dieser Stellung durch die unablässigen und gemeinen Beschimpfungen, die er von unduldsamen Finsterlingen zu erleiden hatte, so sehr erschwert, daß er sich nach einer andern Stelle umsehen mußte. Im J. 1840 wurde er als erster Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Prag erwählt, wo er, nachdem er 1870 auch den Titel eines Oberrabbiners erhalten hatte, bis zu seinem Tode verblieb. Seine litterarische Thätigkeit hatte auch während jener Zeit harter Kämpfe nicht geruht. Ihr entstammen die meisten in der Zeitschrift Kerem chemed (1833–43) veröffentlichten Briefe und Aufsätze über talmudische Chronologie, alte Grabdenkmäler, die Abfassungszeit des Jalkut und andere damit zusammenhängende Fragen. Erst im J. 1852 gelang es R., den ersten Theil seiner talmudischen Realencyclopädie herauszugeben, der eine Reihe mannigfacher und lichtvoller Untersuchungen, die sich über das Gebiet der biblischen und talmudischen Archäologie erstrecken, in sich faßt. Von hervorragendem Werth sind auch die gelegentlich verfaßten Einleitungen zu der von D. Cassel edirten geonäischen Responsensammlung (Berlin 1848), zu den von Lieben veröffentlichten Grabsteininschriften des Prager israelitischen Friedhofs (Prag 1856) und zu dem ethischen Werke „Seelenbetrachtung“ von Abraham b. Chiha (Ed. Leipzig 1860). R. hat mit dem zunehmenden Alter seine litterarische Thätigkeit allmählich eingestellt, was sich zum Theile auch aus einer gewissen Verbitterung erklärt, die er darüber empfand, daß an der Hand der von ihm angebahnten Kritik, von der auch die jüdischen Religionsurkunden später nicht verschont blieben, sich eine freiere historische Auffassung des tradirten Judenthums hervorbildete, welche die eifrig angestrebten eingreifenden Cultusreformen, durch welche R. den Einheitsbestand des Judenthums bedroht sah, zu rechtfertigen geeignet war. R. hatte schon in einem an die Frankfurter Rabbinerversammlung gerichteten Sendschreiben (1845) die Gründe auseinandergesetzt, aus welchen er sich den Reformbestrebungen gegenüber ablehnend zu verhalten veranlaßt sehe. Dies hinderte ihn jedoch nicht, später für den wegen seiner freieren Auffassung des jüdischen Traditionsbegriffs verketzerten Z. Frankel einzutreten (1858), für die er sich allerdings nicht entschieden erklärte. Einen tieferen Einblick in seine Denkrichtung und in seinen Studienkreis gewähren uns die aus seinem Nachlasse veröffentlichten Werke („Nachlat Jehuda“, Prag 1869, Krakau 1873), in welchen er ebenso Geiger’s Bibelkritik als die Heilighaltung des Sohar bekämpfte. Daß er indeß auch selbst die historisch-kritische Methode zur Erklärung der Bibel zu Hülfe nahm, ist aus den von Harkavy und Gräber herausgegebenen wissenschaftlichen Briefen Rapoport’s und anderen seinen handschriftlichen Aufzeichnungen entnommenen Briefen und Aufsätzen zu ersehen, die in den Zeitschriften Ha-Maggid, Sa-Sihachar und Or Thora abgedruckt sind.
Rapoport: Salomo Jehuda Löb R., jüdischer Geschichts- und Alterthumsforscher, geb. am 1. Juni 1790 in Lemberg, † am 16. Oct. 1867 in Prag. Frühzeitig in das Studium des Talmuds, das noch im Laufe dieses Jahrhunderts in den polnischen Ländern der strebsamen jüdischen Jugend als einzige Geistesnahrung dargeboten wurde, eingeführt, fand er in demselben für den ihm angeborenen Scharfsinn die fruchtbarste Anregung; er versäumte es indes nicht,- Kurländer, S. L. Rapoport, Pest 1868. – Kerem chemed 4, S. 241–259. – S. G. Stern, Liber Responsorionum, Vorbem. – Fr. Delitzsch, Zur Geschichte der jüdischen Poesie, S. 118. – Wurzbach, Biographisches Lexikon, Th. 24, S. 356–361.