ADB:Bertheau, Carl
René B., war zu derselben Zeit nach London geflohen, wo sein Sohn Charles, 1660 in Montpellier geboren, im J. 1686 zu einem der Pastoren an der französischen Kirche gewählt wurde, welche Anstellung er 44 Jahre bekleidete. Er starb am 26. December 1732 als sehr gefeierter und berühmter Kanzelredner, dessen Predigten auch ins Deutsche übersetzt wurden. Unser B. war von 14 heranwachsenden Kindern das sechste, aus der zweiten Ehe seines Vaters Henry Auguste Bertheau das älteste. In seine Jugend fiel [438] die entsetzliche Noth, die Hamburg unter dem Drucke der Franzosen erlitt und die in der großen Familie besonders schwer empfunden ward, da diese des bisherigen Wohlstandes verlustig ging. Vom 13. Lebensjahre an besuchte B. das Johanneum, das damals noch unter Gurlitt (s. A. D. B. X, 182) blühte, an dem neben anderen auch Hipp (s. A. D. B. XII, 463) lehrte. Ostern 1824 nahm B. als Primus der Prima graeca sowohl mit einer deutschen als auch mit einer lateinischen Rede, die er für den plötzlich erkrankten Commilitonen übernehmen mußte, von der Schule Abschied. Er sprach über die Folgen der Eroberung Constantinopels durch die Türken für die Ausbreitung der Wissenschaften. Darauf besuchte er noch auf ein Jahr das Akademische Gymnasium. Die Freundschaft, welche B. auf dem Johanneum und hier mit einigen Studirenden wie J. Fr. Voigt, zeitweiligem Mitglied des Reichsoberhandelsgerichtes in Leipzig, mit Joh. Classen, dem Director der Gymnasien in Frankfurt und in Hamburg und mit Wichern geschlossen hatte, dauerte durch das ganze Leben hindurch. Gurlitt hatte schon früher in einem litterarischen Streit mit Claus Harms in Kiel den Rationalismus eifrigst vertheidigt und in den Schulprogrammen von 1821 und 1822 „die theologische Dogmatik des Dr. Wegscheider zum prüfenden Studium für angehende Theologen“ empfohlen und seine Rede zur Empfehlung des Vernunftgebrauches beim Studium der Theologie veröffentlicht. Kein Wunder, daß auch B. Ostern 1825 gleich vielen anderen Hamburger Theologen in Halle unter Wegscheider und Gesenius seine Studien begann und nachweislich nicht bei Tholuck hörte, der im Anfang 1826 nach Halle zog. Nach zweijährigem Aufenthalte dort brachte B. die folgenden drei Semester in Heidelberg zu, wo er neben Paulus auch Daub (s. A. D. B. IV, 768) und Umbreit (s. A. D. B. XXXIX, 273) hörte, während er im Hause seines Oheims Jean François Bertheau gastliche Aufnahme gefunden. In Göttingen beschloß B. nach einem halbjährigen Aufenthalt seine Universitätsstudien durch die Promotion zum Dr. phil. am 11. April 1829. Seine Promotionsschrift: „Dissert. inaug. de secundo libro Maccabaeorum“ (Gotting. 1829), für die sich Bertheau’s Freund Ferd. Hitzig (s. A. D. B. XII, 507) schon im Winter interessirt hatte, ist, nach Kayser, ohne Wissen des Verfassers 1836 noch wieder aufgelegt worden. B. kehrte in die Vaterstadt zurück und bestand, bezeichnend für die Doppelrichtung seines ganzen Lebens, 1829 am 14. September das philologische und am 13. November das theologische Examen. Gleich manchen seiner Hamburger Freunde wie Wichern und Krabbe (s. A. D. B. XVII, 2) rang B. sich los von dem Rationalismus seiner akademischen Jahre und durch zu einem „begeistert ergriffenen biblischen Christenthum“. In diese Zeit (1831) fällt auch der Tod seines Vaters, wodurch B. die Hauptstütze der Mutter und der umsichtige Berather des großen Kreises von Geschwistern wurde. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Verantwortlichkeit, welche auf dem erst Fünfundzwanzigjährigen ruhte, mit dazu beigetragen hat, der äußern Erscheinung der im Grunde weichen Persönlichkeit das Gepräge strengen Ernstes zu geben. In öffentliche Wirksamkeit trat B., als er um Michaelis 1832 zum Collaborator am Johanneum und ein Jahr darauf auch zum Katecheten – zum nichtordinirten Seelsorger – an den Gefängnissen erwählt wurde. Im Juli 1835 begründete B. sein eigenes Haus durch die Vermählung mit Jeanne Bertheau, der Tochter seines Oheims in Heidelberg. Diese Ehe war gesegnet mit sechs Kindern, deren ältestes der Pastor D. Carl B. in Hamburg ist. Nachdem B. im J. 1856 die treue Lebensgefährtin nach vieljähriger Krankheit durch den Tod verloren, schloß er später im J. 1865 eine zweite Ehe mit der verwittweten Frau Bertha Maria Frauenknecht geb. Mayr aus Memmingen. Bertheau’s Thätigkeit wurde einheitlicher, als er am Ende des Jahres 1842 sein Schulamt niederlegte und sich [439] ganz seinem geistlichen Amte widmete. Da dies aber durch den Mangel der Ordination ihm nur eine beschränkte Wirksamkeit bot, so mußte B. als eine naturgemäße Beförderung ansehen, als ihn das Scholarchat nach dem Tode des ersten Directors der Realschule des Johanneums zu dessen Nachfolger am 15. März 1845 berief. Hiermit war B. in die Stellung eingetreten, die er bis zum Schluß des Jahres 1872 bekleidete, an die Spitze der Schule, der er bereits neun Jahre als Collaborator angehört hatte. Sein Verdienst ist es, die Realschule, etwa der späteren sechsclassigen sogenannten höheren Bürgerschule entsprechend, in ein Realgymnasium übergeleitet zu haben. B. hatte sich zwar nach dem Antritt seines Amtes der Gunst des Publicums, aber nicht immer des Scholarchats zu erfreuen. Pläne, die er schon 1856 dieser Behörde vortrug, über den Ausbau der Schule, wurden erst 1868 durch Hinzufügung von Vorschulclassen erfüllt. B. hatte schon vor den auch das Hamburger Schulwesen sehr wesentlich beeinflussenden Ereignissen des Jahres 1866 die Nothwendigkeit erkannt, die damals einzige staatliche Realschule Hamburgs durch Einfügung des lateinischen Unterrichtes und durch Hinzufügung neuer Classen auch für die confirmirte Jugend zu heben. Bereits im October 1865 trat B. an die Behörde mit einem solchen Plan aufs neue heran. Schon zu Ostern 1866 konnte das Schuljahr mit neuem Lehrplan begonnen werden und B. hatte die Genugthuung, daß das Bundeskanzleramt die neuorganisirte Schule schon 1868 als eine Realschule erster Ordnung anerkannte, aus der das gegenwärtige Realgymnasium erwachsen ist. Bertheau’s eigentliche und vorzüglichste Bedeutung lag aber wohl in dem erziehlichen Einfluß, den er, ohne viele Worte mündlich oder schriftlich zu machen oder zu erwarten, durch die eigene Pflichterfüllung und unausgesetzte, gewissenhafte Arbeit auf seine Mitarbeiter und durch seine liebevolle und sorgfältige eingehende persönliche Leitung auf die Jugend machte. Namentlich in seinen Religionsstunden trat dies hervor. „Es war ein beständiger Appell ans Gewissen“, bekannte späer ein einstmaliger Schüler und College und nachmaliges Mitglied der Oberschulbehörde, „hervorgerufen durch die Totalität seines Wesens.“ Bis zum Schluß des Jahres 1872 verblieb B. in dieser reich gesegneten Stellung, um auf seinen Wunsch alsdann pensionirt zu werden. Während seines Directorats zwar ohne geistliches Amt, hat B. doch weder aufgehört zu predigen, noch eine seelsorgerische Thätigkeit eingestellt. Schon als er Katechet an den Gefängnissen war, wurden seine Predigten gern gehört von einer stets zu ihm haltenden Zuhörerschaft aus den gebildeten Ständen. Seine Predigtgemeinde hat er sich etwa durch vier Jahrzehnte hindurch bewahrt: „er mochte predigen wo und wann er wollte, seine Kirche war immer gedrängt voll“. „Einfach und schlicht, ohne jeden unnöthigen rhetorischen Schmuck, aber in classisch gediegener Form und durchwärmt von eigener, innerer christlicher Lebenserfahrung, wußte er dem Worte des Heils Eingang in die Herzen seiner Zuhörer zu verschaffen.“ Hatte er als Katechet sich der Hülfe bedürftigster und geistlich verlassenster Menschen seelsorgerlich anzunehmen, so war es ihm in der Zeit seines Schuldirectorates eine seiner liebsten Arbeiten, für die entlassenen Sträflinge zu sorgen. B. hatte es zuerst wieder angeregt, einen Verein zur Fürsorge für entlassene Sträflinge ins Leben zu rufen, nachdem ein früherer Versuch, etwas der Art zu Stande zu bringen, vordem, daß er Katechet an den Strafanstalten war, mißlungen war. Im J. 1839 gehörte B. mit zu den Gründern des Vereins und ist in demselben und zwar als am meisten thätiges Mitglied bis zu seiner letzten Krankheit wirksam gewesen. Diese Thätigkeit leitete B. auch dazu, sich an den Werken der inneren Mission zu betheiligen. In den Verwaltungsausschuß des Vereins für innere Mission wurde er nach seiner Pensionirung im J. 1872 gewählt, da man mit Recht meinte, er habe [440] nun Zeit, sich an den Arbeiten zu betheiligen. Das Präsidium dieses Ausschusses führte er von 1873–1880. Und als Wichern den Gedanken angeregt hatte, zum ersten Male seit der Reformation eine neue Kirche in der Stadt zu erbauen, war es B. der durch seine Mitwirkung wesentlich den Bau derselben, der Anscharkirche, gefördert hat. Mehrere Jahre hindurch predigte B. alle vierzehn Tage in dieser Kapelle, womit deren Wirksamkeit begann. Bertheau’s hervorragende Begabung, durch seine Persönlichkeit einen sittlichen, veredelnden Einfluß zu üben, hinderte ihn nicht an gelehrter Beschäftigung. In den ersten Jahren nach seiner Universitätszeit bildete u. a. Tacitus seine tägliche Lectüre; um auf Confirmationsstunden sich gründlich vorzubereiten, hat er einst das Neue Testament ins Latein übersetzt. Aber schriftstellerisch ist er außer in der genannten Dissertation nur noch in drei Schulprogrammen hervorgetreten, nämlich zu Ostern 1846 in seinem „Bericht über die Realschule des Johanneums“, der ausführlich Bertheau’s Grundsätze hinsichtlich des Lehrplans, der Methode des Unterrichts und der Disciplin der Schule ausspricht. Dann folgten in den beiden Abhandlungen, zuerst 1854 „Einige Bemerkungen über die Stelle Gal. 2 und ihr Verhältniß zu der Apostelgeschichte“ und 1858 „Die Berichte über die apostolischen Gehülfen und Gefährten in der Apostelgeschichte und den paulinischen Briefen, ein Zeugniß für die Authentie dieser Schriften“. Beide Arbeiten sind eine Frucht seiner gründlichen Studien für den Religionsunterricht. Die größere Muße, die ihm seine Pensionirung gewährte, verwandte er u. a. auch dazu, die reichhaltige Sammlung älterer ascetischer Schriften der Hamburger Stadtbibliothek zu katalogisiren. – Als B. beim Ausbruch des Krieges 1870 auf einer Ferienreise begriffen war, erlitt er auf dem Bahnhofe zu Rüdesheim durch einen unglücklichen Fall eine schwere Verletzung, die fortan den stattlichen, kräftigen Mann am Gehen behinderte. Namentlich der Umstand, daß er trotz aller Energie zuletzt die Treppen nicht mehr steigen konnte, führte ihn dazu, um seine Entlassung einzukommen. „Ein Director, der in seiner Schule nicht überall hinkommen kann, sobald er will“, so sagte er wol, „ist unbrauchbar.“ Zum Schlusse des Jahres 1872 trat B. in den erbetenen, wohl verdienten Ruhestand. Abgesehen von der Schwierigkeit, sich ungehindert bewegen zu können, war B. nun mehrere Jahre hindurch besonders frisch und thätig, hauptsächlich beschäftigt auf den vorhin angegebenen Gebieten der innern Mission. Die Feier seines fünfzigjährigen Doctorjubliäums war für den April 1879 schon in Aussicht genommen, als ein Schlaganfall ihn rührte, wodurch ihm die letzten Lebensjahre zu schweren Prüfungsjahren wurden. Aber alles Leid und allen Schmerz der letzten Jahre trug er in dem festen Vertrauen zu der Liebe seines himmlischen Vaters, in dem unerschütterlichen Glauben an seinen Heiland und Erlöser, und in diesem Glauben ist er am 7. Juni 1886, fast achtzigjährig, zum ewigen Frieden eingegangen, den er für sich schon lange ersehnte. – Eine Vereinigung einstmaliger Collegen und Schüler Bertheau’s ließ sein wohlgelungenes Bildniß als Relief in weißem Marmor durch den Bildhauer Engelbert Peiffer ausführen, und schmückte damit die Aula des Realgymnasiums.
Bertheau: Carl B., Schulmann und Theologe, wurde in Hamburg am 13. Juli 1806 geboren und starb daselbst am 7. Juni 1886. Er stammte aus einer Hugenottenfamilie; sein sechster Vorfahr, Samuel B., war nach der Aufhebung des Edicts von Nantes von Chatellerault an der Vienne bei Poitiers nach Hamburg gekommen. Ein Verwandter von ihm, nach mündlicher Tradition in der Familie sein Bruder,- Nach Mittheilungen der Familien und persönlichen Erinnerungen. Die Citate sind entnommen den beiden Schriften: Theodor Wellig, Zur Erinnerung an Director Dr. Carl Bertheau, Realgymnasium des Johanneums. Hamburg Ostern 1887, und Beilage zu dem Berichte über das 54. Schuljahr. Realgymnasium des Johanneums. Hamburg 1888, woselbst S. 5–18 die Rede von Hauptpastor D. H. Röpe bei der Enthüllung von Bertheau’s Bildniß am 28. Nov. 1887 enthalten ist. – Zur Familiengeschichte vgl. Herzog-Hauck, theol. Realencyclopädie den Artikel: Ernst Bertheau. Ueber Charles Bertheau s. auch: Dictionary of National Biography, ed. by Leslie Stephen. Vol. IV. London, Smith Elder & Co. 1885.