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Wilhelm Löhes Leben (Band 3)/Krankheit und Abnehmen

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« Äußere Verhältnisse Johannes Deinzer
Wilhelm Löhes Leben (Band 3)
Tod und Begräbnis »
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Krankheit und Abnehmen.


 Wer Löhe noch Mitte der sechziger Jahre – scheinbar in voller Kraft seines Amtes walten und Arbeitslasten bewältigen sah, die eines Mannes Leistungsfähigkeit weit überstiegen, ahnte nicht, wie schwer er zuweilen doch auch an dem Pfahl im Fleisch, mancherlei leiblichem Wehe, trug. Namentlich im letzten Jahrzehnt seines Lebens trat ein schon länger vorhandenes Nierenleiden zuweilen sehr heftig auf. Nächtliche Schmerzanfälle raubten ihm dann auch die Ruhe des Schlafs, so daß er, wie er manchmal sagte, Psalm 16, 7 in buchstäblichem Sinne verstehen gelernt habe.

 Verhältnismäßig früh wurde Löhes scheinbar unverwüstliche Gesundheit erschüttert. Eine schwere Erkrankung an einem typhösen Fieber brachte ihn im Beginn des Jahres 1855 wenige Monate nach Gründung der Diakonissenanstalt an den Rand des Grabes. Die Krankheit war wol die Folge der übermäßigen Anstrengung, die der von ihm ganz allein geleitete Bau des Diakonissenhauses und die mit der Diakonissenanstalt selbst ihm auferlegte neue Lebenslast verursachte. Schon Ende 1854 durchzog ihn die Ahnung, daß im kommenden Jahre ihm Schweres bevorstehe. Er schrieb damals in sein Tagebuch: „Ich habe in meinem leiblichen Befinden manche ernste Mahnung. Und doch war diese Woche so viel Friede| und Behagen, daß mein alter Gedanke in friedlich schöner Zeit, daß es Stille vor dem Sturm sei, mehrfach geweckt wurde. Gott wird mir je mehr und mehr verleihen, rein in seinem Willen zu ruhen und frei von aller unordentlichen Begier allein der Ewigkeit zu leben.“

 Am 22. Januar ergriff ihn die Krankheit, und eine Weile schwebte er zwischen Tod und Leben. Für die eben ins Leben getretene Diakonissenanstalt würde sein Tod damals ein nicht zu verwindender Schlag gewesen sein. Gottes Barmherzigkeit wendete dies Schwerste ab. Es wurde von vielen ernstlich um sein Leben gebetet und er genas wieder. Am 10. März 1855 finden wir den ersten Eintrag in sein Tagebuch seit seiner Erkrankung: „Eine lange Unterbrechung in diesem Buche. Vom 21/22. Januar bis heute leide ich an den Folgen einer schweren Krankheit, welche über mich kam. Ich hatte typhöse Fieber und solche Zustände, welche der Arzt in mehrfacher Hinsicht für tödlich erklärte – und siehe, ich lebe. Morgen, Sonntag Oculi will ich versuchen, wieder zu predigen. Verleihe mir Gott, daß ich meine noch übrige Lebenszeit dankbar für mein Seelenheil und zum Segen meiner Brüder benutze.“

 Ein neuer Krankheitsanfall traf ihn im Spätsommer 1857. Außer dem damals wol bereits sich anbahnenden Nierenleiden waren es eigentümliche Zungenschwellungen und Affektionen des kleinen Gehirns, die ihn beschwerten. Der Anfall war so heftig, daß Löhe für längere Zeit zu seinem Schmerz am Betreten der Kanzel verhindert war. Damals wird es gewesen sein, daß er, wie ein Freund dem Schreiber dieses erzählte, einmal ganz besonders ernstlich Gott um „eine Alterszulage wie Hiskia“ anflehte. Und in der That wurden ihm von da an noch 15 Jahre des Lebens und Wirkens zugelegt. Der Arzt riet ihm für das nächste Jahr dringend den Gebrauch der Carlsbader Wasser und einen| längeren Curaufenthalt daselbst an. Zweimal gebrauchte Löhe Carlsbad, ohne jedoch mehr als vorübergehende Erleichterung, und ohne am Badeleben selbst irgend welchen Geschmack zu finden. Ihm, dem großen Liebhaber der Stille und unermüdlich thätigen Arbeiter, konnte die gezwungene Unthätigkeit desselben nicht zusagen. „Wir werden ganz liederlich – schreibt er einmal scherzend – und führen ein reines Wirtshausleben. Die Faulenzerei des Badelebens ist auch ein Geschäft und zwar ein anstrengendes.“ Er bekam dieses „herumlungern“ (das bei ihm freilich nicht wörtlich zu nehmen war, vielmehr mit einer kaum mehr curgemäß zu nennenden Thätigkeit zusammenging) in kurzer Zeit satt und freute sich, Carlsbad im Rücken zu haben, so sehr ihn dessen landschaftliche Schönheit entzückte und so sehr einige Bekanntschaften, die er dort machte, ihm von Wert waren. Unter denen, die ihm dort näher traten, waren zwei reformierte Schweizer aus Heiden, mit denen er viel verkehrte, auch in einer gewissen Gebetsgemeinschaft stand, unbeschadet des Gegensatzes, den ihre „calvinistische Hartnäckigkeit in der Anschauung von den Sacramenten“ ihm fühlbar machte. Er freute sich mit ihnen des Einigenden und zog doch scharf die Grenzlinie des Trennenden und blieb wegen des Einen und trotz des Andern mit diesen beiden Männern, von denen namentlich der ältere in den gläubigen Kreisen seiner Heimat großes Ansehen genoß, in lebenslänglicher Freundschaft verbunden. Nicht minder wertvoll war ihm die intime Bekanntschaft mit dem Dichter Julius Sturm, mit dem er während ihres gemeinsamen Aufenthalts in Carlsbad täglich verkehrte. Sturm hat ihm eines seiner Sonette gewidmet, welches, weil es in leicht verhüllter Form eine schöne Charakteristik Löhes enthält, hier mitgeteilt werden mag. Die Zueignung lautet: „Dem lieben Schweiger“ und das Gedicht selbst, wie folgt:
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Dem Bächlein ist das muntere Plaudern eigen,
Jetzt rauscht es plätschernd auf am Felsgestein,
Dann murmelts froh, durchblitzt vom Sonnenschein,
Und tanzt durch Gras und Blumen seinen Reigen.
 * *
Der mächtige Strom trägt schon ein andres Zeichen,
Er rauscht gewaltig in das Land hinein,
Umtost den Fels mit wilden Melodei’n
Und gibt dann wieder Raum bedächt’gem Schweigen.
 * *
Wohl sind sie beide schön in ihrer Weise,
Doch schöner ist der See, auf dessen Flut,
Die tief und klar, ein sanfter Friede ruht.

Am Ufer flüstern nur die Halme leise,
Und leise furcht die Flut ein leichter Kahn,
Und der drin ruht, blickt schweigend himmelan.


 Auch von solchen Kurgästen, die dem Reiche Gottes noch ferner standen, fand der eine und andere durch Löhes geistige Bedeutung sich angezogen. Er war bemüht, für sie ein Missionar und Wegweiser zu Christo zu werden. Vielleicht darf auch die Notiz hier stehen, daß der alte Gasthofbesitzer zur „Fischotter“, der Goethe von seinem Carlsbader Curaufenthalt her kannte, sich gar nicht genug über die frappante Ähnlichkeit der Erscheinung und des Auftretens Löhes mit dem des Dichters verwundern konnte, wie er einem Freunde des Verfassers erzählte. Das Ruhige, Würdevolle des Benehmens beider mag den alten Mann zu seinem Vergleich veranlaßt haben.

 Beim Weggang von Carlsbad meinte der Arzt: Bei seiner guten Constitution habe Löhe Anlage, alt zu werden – nur müße er zu große geistige Arbeit vermeiden. Aber eben diese Bedingung war für ihn unerfüllbar, da die Arbeit am Diakonissenhause beständig zunahm. Der gemütlich ihn tief aufregende Sommer 1860, in welchen seine Suspension fiel, setzte auch seiner Gesundheit hart| zu. Noch einmal suchte er Heilung oder Erleichterung seiner Beschwerden im Bade Ragaz im Sommer 1861. Irgend eine wesentliche Hilfe scheint ihm jedoch auch diese Cur nicht gebracht zu haben, wenn die Reise ihn auch gemütlich sehr erfrischte. Ein großer dankbar empfundener Genuß war ihm der Anblick der großartigen Naturschönheit der Schweiz, ihrer Thäler und ihrer Bergeshöhen, „die auch Sein sind“ Ps. 95, 4. Ganz hingenommen war er von einem Gang nach dem hochgelegenen Dorfe Pfäfers. „Etwas so Schönes – sagt er – hatte ich noch nicht gesehen. Mir war Pfäfers wie ein Abbild der ewigen Friedenshütten.“

 Von da an hat Löhe kein Bad mehr besucht. Von anderem abgesehen fehlten ihm dazu Zeit und Mittel. Nur einige zu rechter Zeit vollendete litterarische Arbeiten und die Honorare, die sie abwarfen, hatten die früheren Badereisen ermöglicht; jetzt bei zunehmendem Alter und stetig wachsender Lebenslast versiegte seine schriftstellerische Produktion und damit der wünschenswerte Zufluß zur Verbesserung seines geringen Pfarreinkommens. Aber diese notgedrungene Unterlassung fernerer Bade- und Erholungsreisen kostete ihm keine Entsagung, sein Vertrauen auf Menschenhilfe war ohnehin gering, die Heilkraft der für manche Fälle so wolthätig wirkenden Wasser bei ihm keine durchschlagende gewesen: so ergab er sich in die schwere Aufgabe fortgesetzten, angestrengten Wirkens bei krankhaft beschwertem Leibe. Es kennzeichnet ganz seinen eigenen Seelenzustand und seine Stellung zu der Frage, was der Christ zur Erhaltung und Wiedererlangung seiner Gesundheit thun solle, wenn er in seinem „Raphael“, einem Gebetbuch für Reisende, den Christen beim Antritt einer Badereise beten lehrt:

 „O HErr, ich habe meinen kranken Leib aus meiner Heimat bis hieher an diesen Ort gebracht, ob es Dir etwa gefiele, mir durch den Gebrauch der Wasser, welche Du hier aus der Erde sprudeln lässest, Heilung oder doch Erleichterung zu geben. Ich| weiß, daß Gesundheit nicht das größte Erdengut ist und habe sie als ein solches niemals von Dir zu erflehen gewagt, das weißest Du. Wohl aber weiß ich, daß ein kranker Leib und ein immer schwankendes Befinden in diesem ungewissen Leben eine gute, vollkommene Gabe Deiner Hand sein kann, wie ich das auch oft und viel an mir und andern erfahren habe. Wer alle Tage das Anklopfen Deiner Hand hört und fühlt und immer neue Warnung empfängt, dem ungewissen Leben nicht zu trauen, trägt seine Seele in Händen und sorgt für sein ewiges Bleiben an dem Ort, wo unter dem Stuhl des Lammes der Strom des ewigen Lebens und in ihm ein Wasser entquillt, das alle Krankheit heilt. Aber weil ja doch der doppelte Beruf des Leidens und der Thätigkeit sehr schwer ist, und uns armen Menschenkindern oftmals vorkommt, als könnten wir ohne Satansengel und Pfahl im Fleisch die Aufgabe unseres zeitlichen Lebens und Berufes völliger lösen, und weil wir doch auch nicht wissen, ob wir nicht durch eines der von Dir geschaffenen Mittel unsrer Last entledigt werden dürfen, so versuchen wir unser zeitliches Heil nach dem Rat menschlicher Ärzte wenigstens in so lange, bis wir die gewisse Überzeugung empfangen, wir sollen unseres Berufes ohne Erleichterung, ohne Genesung warten und Frucht bringen wie die Palme unter der Last, in Geduld. So bin denn auch ich zu diesen Wassern gekommen, ob Du sie mir wollest segnen durch Bad und Becher. Ich hoffe nicht von Mitteln, sondern alleine von Dir und auf Dich: das weißest Du. Meine Seele hanget Dir an, Deine rechte Hand erhält, Dein Stecken und Stab trösten mich, Dein Wort macht Leib und Seel gesund. Meine Hilfe steht bei dem, der Himmel und Erde gemacht hat, ich kenne die Berge, von welchen mir Seine Hilfe kommt, und hebe meine Augen zu ihnen auf. HErr, sende mir Hilfe vom Heiligtum und stärke mich aus Zion. Willst Du mir das Bad segnen, so sei Dein Name gelobet; wenn| aber nicht, so hilf mir, wann und wie Du willst. Laß mich nur an Dir und Deiner heilsamen Führung nicht irre werden, sondern laß mich fest die Wahrheit erfassen, daß Du nicht allein meine Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung, sondern auch meine Genesung seiest und meine Gesundheit, o Du, der Du alle unsre Krankheit auf Dich nahmest und all unser Leid trugest etc.“

 In gleichem Sinn schrieb er bei seiner Abreise von Carlsbad nach dem zweiten Curgebrauch: „Bis jetzt glaube ich trotz aller vorhandenen Aufregung an Besserung meines Unterleibs, aber mein chronisches Leiden in Hinterhaupt, Hals, Zunge, Schleimhäuten tritt annoch zu sehr hervor, als daß ich die geweissagte Besserung schon hoffte. Der HErr helfe mir, wenn es Ihm gefällt. Er weiß, wie ausgesucht das Leiden gerade für mich, meinen Lebensgang, meinen Beruf ist. Er hat mirs ausgesucht.“

 Vielleicht wäre hier der Ort, ein kleines Kapitel mit der Überschrift „Löhe auf Reisen“ einzuschalten, wenn der hiefür zu Gebote stehende Stoff nicht doch zu knapp wäre. Aber ein paar in dieses Kapitel gehörige Mitteilungen sind hoffentlich doch nicht unerwünscht.

 Löhe ist ja nicht eben viel gereist und nie zum bloßen Vergnügen; seine Reisen waren entweder Berufsreisen oder vom Arzt gebotene Erholungsreisen in ein Bad. Nur schwer entschloß er sich von Haus und Beruf wegzugehen, aber, einmal unterwegs, war er doch ein vergnügter Reisender, für alles Schöne in den Werken der Schöpfung und in den Werken menschlicher Kunst empfänglich und aufgeschlossen, immer bestrebt, seinem Geist neue Anregungen und Bildungsstoffe zuzuführen, überall und von allen zu lernen und jeden Aufenthalt in der Fremde für sich, sein Leben und seinen Beruf in der Heimat so nutzbringend als möglich zu machen. Das bloße „Sich gehen lassen“ kannte er nicht, auch| nicht in der Zeit notgedrungener Erholung, wenn er den Gurt der strengen Berufsarbeit löste. Vollends die christliche und geistliche Haltung, für manchen ein Ehrenpanzer, den er abschnallt, wenn er das Reisekleid anzieht, verließ ihn auch auf Reisen nie. Das während einer Reise und eines Badeaufenthaltes in Ragaz 1861 entstandene Gebetbuch für Fremdlinge und Reisende, „Raphael“[1] betitelt, zeigt, wie er auch das Reisen unter den geistlichen Gesichtspunkt zu stellen und es sub specie aeternitatis zu betrachten strebte. Es sei hier nur erinnert an das schöne Gebet um rechte Freiheit vom Beruf und seiner Sorge, aus dem man leicht das Seufzen seiner eigenen Seele heraushören kann, wenn er da betet: „Ich bekenne Dir, daß ich in meiner zeitlichen Arbeit und in meinem irdischen Berufe wie ein Sklave und wie ein Gefangener dahin gehe, mich schleppe, oftmals darunter keuche und seufze... Ja, ich bin in meinem Berufe, wie in einem Kerker, aus dem ich keinen Ausgang finde... Es ist ja allerdings Dein Gebot und Wille, daß ich meinem irdischen Beruf und meiner Arbeit nachgehe; aber ich soll meine teuer erkaufte und erlöste Seele nicht in die Bande des Berufes schmieden lassen als wäre ich ein Züchtling... So hilf mir denn, o mein Helfer und laß mir diese meine Reise und leibliche Entfernung von meinem Orte und meiner Werkstatt dazu dienen, daß ich zwischen übermäßiger Sorge und Vergessenheit meines Berufes die rechte Mitte einer freien Seele finde“ etc., oder an das Gebet um Freude an der Creatur Gottes, die, obwol der Eitelkeit unterthan, dennoch vom Ysop bis zur Ceder eine Offenbarung Seines unsichtbaren Wesens, Seiner ewigen Kraft und Gottheit und ein Widerschein der ewigen und geistlichen Welt ist. Dem entsprechend galt, wenn er reiste, sein| vornehmstes Interesse bedeutenderen Erscheinungen und Schöpfungen auf dem Gebiet des Reiches Gottes. Kirchen, Hospitäler, Diakonissen- und Missionshäuser, Anstalten für kirchliche Kunst waren seiner regsten Aufmerksamkeit sicher. Berühmte Persönlichkeiten aufzusuchen lag nicht in seiner Art, doch benützte er z. B. seine Schweizer Badereise nicht blos zu einem Ausflug nach Männedorf, sondern auch auf dem Rückweg zu einem Besuch in Bad Boll. Die Gabe der Jungfrau Trudel erkannte er an, wiewol er ihr gottesdienstliches Auftreten und Reden für etwas dem Weibe nicht Geziemendes hielt. Über Blumhardt lautete seine Tagebucheinzeichnung: „Es gefiel mir der Mann besser als ich gefürchtet hatte. Gott sei Dank für diese Freude.“ Selbst Gestaltungen des christlichen Gemeinschaftslebens, die seinem eignen kirchlichen Standpunkt so ferne lagen, wie der Darbyismus, widmete er bei einem kurzen Aufenthalt in Cannes, wohin er seine kranke Tochter geleitet hatte, eingehendes Interesse, indem er sich mündlich belehren ließ und einschlägige Schriften studierte. An dem einen Sonntag, den er in Cannes zubrachte, besuchte er außerdem nach einander die Kapelle des Mr. Roussel, eines der bedeutendsten Redner der église libre in Frankreich, dann den Gottesdienst in der schottischen Freikirche und endlich den Abendgottesdienst in der anglikanischen Kapelle, wo es ihm am besten gefiel und „heimatlich“ wurde.
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 Ebenso war ihm die Muße des Reisens und des Aufenthalts in der Fremde eine willkommene Gelegenheit zu ungestörterem Studium. Vielleicht mehr als es dem Zweck der Erholung und des Curgebrauchs frommte, war er mit Correspondenz, schriftstellerischen Entwürfen und Arbeiten und Lektüre beschäftigt. Allein was er an Einem Tag in solchen „Erholungszeiten“ las und studierte, dürfte manchem nicht eben lässigen Durchschnittsmenschen als ein anständiges Tagespensum erscheinen. Sulpicius Severus vergleicht in seinem Leben des heil. Martinus von Tours, indem| er die rastlose Thätigkeit des Heiligen rühmt, denselben mit dem Schmied, der, zur Erholung von der Arbeit des Schmiedens, anstatt des Eisens den Ambos hämmert (ut fabris ferrariis moris est qui inter operundum pro quodam laboris levamine incudem suam feriunt). Ich mußte unwillkürlich bei diesen Worten an Löhe denken.

 Bei alle dem hatte er aber auch für die Schönheit der Natur ein offenes und infolge seiner wenn auch nur dilettantenhaften Zeichengabe, auch ein zum Schauen geschultes Auge. Er verstand es auch, wenn er wollte, landschaftliche Schönheit in Worten zu malen.

 Wir geben hier eine Schilderung eines in Zürich verlebten Himmelfahrtstages aus seinen Tagebuchaufzeichnungen, auch als Beispiel, wie er Naturfreude und geistliche Freude zu vereinigen wußte.

 „Am Morgen sah man es bereits dem Himmel an, daß es auch ein Festtag der Natur werden wollte. Schön und strahlend war er, doch voll Duft am Saum, woraus man auf Himmelfahrtswolken Hoffnung fassen durfte. Auch in Zürich war Feiertag; man sah es an allem. Wir giengen auf die hohe Promenade, von da zur Cantonsschule, dem großen Spital, dem Pfründhaus St. Leonhard und in dessen schönen hochgelegenen Garten, wo alles blühte und grünte. Mein Sinn stand zu dem großen König des schönen Tages. Besonders wohl war mir im Garten. Da läuteten nun alle, alle Glocken in der Stadt und das Limmatthal entlang. Welch ein Chor von Lobsängern! Nie hatte ich solche Freude an der Auffahrt des HErrn. Alles feierte sein großes Scheblimini (Ps. 110, V. 1). Gegenüber auf dem Uetli waren Himmelfahrtswolken stationiert. Der Tag ist ein Feiertag der Berge und der Wolken, ihr Ehrentag – dem andern Ehrentage der Wiederkunft entgegenharrend. Mein Herz war voll. Wir giengen nun in die Stadt hinunter in den Frauenmünster. Eine| dichtgedrängte Menge horchte lautlos dem feiernden Prediger zu. Die Predigt über die Himmelfahrtsgeschichte war sehr einfach, bewegte sich nur in den gewöhnlichsten Himmelfahrtsgedanken aller christlichen Prediger. Aber sie war gut, feiernd vorgetragen. Man spürte, wie alles horchte – ich insonderheit spürte, wie groß und schön und erhaben auch die einfachste Himmelfahrtspredigt des einfachsten Himmelfahrtspredigers sein kann. Nichts Unrichtiges. Alles war mir aus der Seele und in die Seele geredet. Ich mußte gehen, der Bahn wegen, ehe die Predigt völlig zu Ende war; aber was ich hörte war – Nachfeier nicht blos, sondern – würdiger zweiter Teil meiner Feier. Wolken, Glocken, Natur und Zürich predigten zusammen den ersten Teil. Habe ich schon so einmal Himmelfahrt gefeiert, obschon der Prediger vom Sacramente und dessen Zusammenhang mit Himmelfahrt nichts sagte noch verstand? Ich war nicht in der Kirche, zu der ich gehöre und gehören muß durch den Drang meiner Seele. Aber ich war dennoch unter Christen und freute mich der Einigkeit in der Anbetung Jesu. Schon als alle Glocken läuteten, sagte ich: Das ist Union! Hernach sagte ichs wieder. Im vollen Bewußtsein dessen, was fehlte, war ich doch voll Gemeinschaft mit allen denen, die Jesu Ehrentag feierten und Ihn in Seiner Auffahrt anbeteten.

 Wir fuhren dann weg über Aarau... nach Neuenburg. Die erste Hälfte des Wegs durch die geschmückte, frühlingshafte Welt war eitel Nachhall der Himmelfahrtsfeier. Ach, wie schön ist dies Land. Der Bieler und Neufchateler See ist nicht mehr „die Schweiz“; aber dennoch, dennoch. Neuenburgs größte Zier ist die große, weiße Alpenkette. Wie schön war das Abendlicht auf den Bergen! Wieder hielt eine leuchtende Himmelfahrtswolke über den Gletschern, bis die Sonne unten war. Der Abend schloß sich wieder an den Morgen. Ein Fürst unter meinen Himmelfahrtstagen. Großen Dank für den edlen Tag, Du großer und treuer HErr!“

|  So ausführlich ist er indes selten in der Wiedergabe der Eindrücke, die er von Natur und Kunst empfieng. Das Malen und Ausmalen mit Worten war ihm zu kleinlich. Meist genügen ihm ein paar knappe Pinselstriche, um das Charakteristische einer Landschaft hervorzuheben. So, wenn er die Herrlichkeiten von Cannes schildernd sagt: „Vor uns das Esterellgebirge, an dessen Fuß der blaue Busen und Hafen und das mit Villen übersäete Gelände; die Rosen blühen, desgleichen Citronen und Orangen, herrlicher Duft und ein Ansehen der Landschaft wie von Herbst und Frühling zusammengesetzt. Sie sagen aber, es sei Winter, obwol man bei offenem Fenster arbeitet.“

 Ein großer Genuß, an dem er sich in der Erinnerung oft noch labte, war ihm eine Meerfahrt von Cannes nach den nahegelegenen Lerinischen Inseln: der Insel St. Marguerite mit ihrem Fort, in welchem damals die von den Franzosen in Algerien besiegten Beduinen- und Araberhäuptlinge interniert waren, und der Insel St. Honorat, von deren marmornen Ruinen aus er „über den Golf Juan hinüber blickte auf die wunderschönen Höhen des Esterellgebirgs und die hinter ihnen sich erhebenden Seealpen, beim strahlendsten Sonnenschein, unter dem Farbenspiel des schönen Meeres und später der Abendsonne.“

 Der Rückweg von Cannes führte ihn über den Col di Tenda, von wo aus er „in das schöne, grüne, von schneeigen, strahlenden Bergen begrenzte Land Piemont“ hinabsehen konnte, nach Turin und Mailand, wo er auch den Turm des marmornen Doms erstieg. „Was sahen wir im Dom für Stickereien,[2] kirchliche! –| schrieb er noch voll des Eindrucks an seine Tochter. Wie interessant waren die Bilder der Bildergalerie! Die Verlobung Marien mit Joseph (das berühmte, unter dem Namen lo sposalitio bekannte Raphaelische Gemälde) und ein Christuskopf von Guido Reni bleiben mir unvergeßlich. Wir sahen auch das Abendmahl von Leonardo da Vinci. Es ist Ölmalerei auf Kalk, bedeckt eine Wand, ist verderbt, da die Spanier einen Stall aus dem Speisesaale der Mönche machten, wo es sich befindet, ist aber trotz alles Verderbs schöner als alle Copien, deren im Hause prächtige aufgestellt waren. Am wohlsten war mir aber in der Kirche des heil. Ambrosius. Was kann man da lernen! Ich könnte über Mailand ein ganzes Buch schreiben.“
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 Besonders lieblich erschien ihm Lugano mit seinem See, „in dessen milden Lüften die hohen Berge ihre Leiber, ihren Fuß aber in seinen Wassern baden.“ „Die ganze Gegend hier ist wunderschön, hier ist italienische Schweiz, alles viel schöner als die Lombardei, in deren Hauptstadt und Ebenen es uns aus andern Gründen so wol gefiel.“ Ein kleines Abenteuer auf eben dieser Reise, von ihm selbst erzählt, mag den Schluß dieses Abschnitts machen. „Der Weg von Airolo – schreibt er – bis zum Hospiz auf der Höhe des Gotthard war kalt. Die Sonne schien hell, der Wind wehte Schnee von den Bergen. ’S ist dort droben nicht schön. Auf der Nordseite – Deutschland zu, kamen wir je zwei und zwei in Schlitten. Da schneite, wehte, fror es, daß wir froh waren, als wir in Andermatt zu einem „kostbaren“ Mahle ankamen und uns mit Wein wärmen konnten. Als wir wieder in die Schlitten kamen und rasend hinabfuhren, sah ich eine merkwürdige Brücke. Der Condukteur fuhr selbst. Ich fragte, „was ist das für eine Brücke?“ Antwort: „die Teufelsbrücke.“ (Sie ist bekannt.) Da raste der Schlitten in die Brücke hinein, fuhr um und um, fiel – Frau Oberin fiel auf mich – der Condukteur| fiel auch; das Pferd wollte nicht halten; die anderen Schlitten waren voraus. Frau Oberin schrie, zumal sie meinte, ich sei beschädigt. Ich aber war ruhig. Der Teufel, der in Andermatt überhaupt sehr spuken soll, hatte mich zu unterst geworfen, aber der Engel des Herrn breitete die Hände unter. Ich stand ganz unverletzt auf, als meine Lasten weg waren. Allein da kam der „Hutschelm“, der auf der dortigen Brücke haust (Windsbraut), und wollte meinen Hut in den Fluß wehen, der unten brauste. Ich erhaschte ihn aber wieder. Ich habe ja ohnehin in Cannes Regenschirm und Kappe gelassen, in Turin den Mantelriemen: wenn ich nun auch keinen Hut mehr gehabt hätte! Es kam aber Mann und Hut wol davon.“
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 Doch, wie gesagt, nur selten wurden Löhe solche Ruhepausen inmitten der Arbeit des Berufslebens zu teil. Als er das letztemal eine solche Erholungsreise antrat, – im Jahr 1863 – war sein körperlicher Zustand schon ein bedenklicher. Er hatte an Pfingsten die Festpredigt gehalten und war eben mit seinem Vikar Dr. Weber in der Austeilung des heil. Abendmahls begriffen, als ein leichter Schlaganfall (die apoplektische Anlage war bei ihm väterliches Erbteil) ihn rührte. Er konnte sich aufrecht erhalten, verschüttete aber, als er den Kelch füllen wollte, den Wein. Die linke Seite des Körpers war unempfindlich geworden, doch blieb sie bewegungsfähig. Vorübergehend litt auch das Gehör, so daß er den vollstimmigen Gesang der zahlreich versammelten Festgemeinde nur leise wie von ferne vernahm. Der von den Seinigen herbeigerufene Arzt gebot strengste Ruhe und zeitweilige völlige Enthaltung von der Arbeit. Löhe bereitete sich in jenen Tagen ernstlich auf den Tod; täglich ließ er sich das Sakrament reichen. Als die unmittelbare Todesgefahr vorüber schien, wurde ihm der Gedanke, seine Arbeit an andere abgeben und brach liegen zu sollen, doch recht schwer. Er strafte sich darüber, erkannte und| bekannte auch seinen Mangel an Leidensfreudigkeit als Sünde. Aber die gleiche Klage kehrt in seinem Tagebuch noch mehrfach wieder. „Ich weiß – sagt er da einmal – daß meine Traurigkeit sündlich ist, daß ich nicht eigentlich ergeben bin in meinen Weg des Leidens. Sterben erscheint mir schöner als ein gebrochenes Leben. Und doch ist letzteres meine Aufgabe. Vielleicht sollte ich auch ein wenig auf Herstellung einiger Leibeskraft hoffen. Ich bin innerlich nicht wie ich sollte und könnte. O HErr, mach mich zufrieden!“ Er fand, wie viel er noch an sich zu korrigieren habe. „Es gibt Treue im Kleinen, die ich getrost noch lernen dürfte, samt Wahrhaftigkeit, neidloser Liebe, Wohlwollen, Freude an fremder Gabe und – gerne abnehmen.“
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 Auf den Rat des Arztes sollte er, um ganz von den Berufsgeschäften sich auszuspannen, auf einige Wochen von Dettelsau weggehen. Er brachte etwa vierzehn Tage auf dem hohen Peißenberg zu. Dort „fern von und hoch über allem Getümmel“ ward ihm wohler. Freilich rasten konnte sein thätiger Geist nicht; er las und studierte viel, um für die ihm allenfalls noch gegönnte Zeit des Wirkens seinen Geist zu befruchten. Aber auch hier zog es ihn nach kurzem Fernesein wieder heim nach Dettelsau. Nachdem er einige der schönsten Gegenden in den bayerischen Voralpen gesehen und die Herrlichkeiten Hohenschwangaus genossen, schreibt er in sein Tagebuch: „Herrliches Wetter, schöne Blicke. Aber ich gestehe, daß ich alles entbehren kann und daß mir meine Dettelsauer Stille alles ersetzen kann. Ach, ich habe das Reisen genug und würde unaufhaltsam heimwärts streben, wenn ich nicht dächte, ich könnte am Ende doch etwas mehr Kraft und Gesundheit sammeln.“ Doch eben das Gefühl der Erstarkung seiner angegriffenen Gesundheit, geschweige wirklichen Wohlbefindens wollte sich während der ganzen Erholungszeit nicht recht einstellen. Noch wenige Tage vor seiner Rückkehr nach Dettelsau schreibt er in sein| Tagebuch: „Ich lese alles als ein „Geschlagener“, Abschiednehmender, Verabschiedeter. Für das immer und immer sich regende Streben meiner Seele finde ich fortwährend Mahnung, daß es mit mir für diese Welt am Ende sei, weil ich krank und invalid bin. Ob das noch einmal anders wird? Ob fertig mit dieser Welt, sehnsüchtig nach dem Himmel, meine Seele doch noch ein Stück recht klaren, bewußten Wirkens zum Heil der Brüder finden wird? Alle meine Gedanken sind vor Dir! Du siehst meine innere Bewegung. Ohne Deinen Geist, Dein Maß und Deine Kraft, auch leibliche, kann ich auch dem bescheidensten Ziel einer neuen Lebensstrecke nicht nachjagen. Ich will vor Dir schweigen, auf Dich warten – Da aber behalte mich ewig und verkläre meine arme Seele für Dein ewiges Reich.“

 Etwas hoffnungsvoller lautet der letzte Eintrag in sein Reisetagebuch: „Ob ich nun mit größerer Kraft und besserer Gesundheit nach Neuendettelsau zurückkehre? Diesen Morgen wäre ich geneigt, die Frage zu bejahen. Jedenfalls, wie ich jetzt sehe, – ich habe ja viel studiert – liegen für mich der Aufgaben noch viele zu lösen vor, wenn ich länger lebte. Die Gemeinde, die Anstalten, die Gesellschaften, die Kirche – was bedürfen sie alles und wie viel erübrigt! Kann und will der HErr mich noch brauchen, so will ich Ihm dienen. Wenn Er mich nicht brauchen will, so wolle Er meine Seele völlig bereiten, daß sie Sein Eigentum ewig bleibe. Amen. Nur Sein!“

 Etwa ein Jahrsiebent des Wirkens war Löhe von da an noch gegönnt. Er bewältigte auch in diesen Jahren noch ein erstaunliches Arbeitspensum, aber allmählich machte sich doch die Abnahme der früher unerschöpflich scheinenden Kraft auch für andre bemerkbar. Jetzt hätte er kräftigere Unterstützung anderer bedurft, aber eben jetzt fehlte sie ihm. Sein reichbegabter Vicar Dr. Weber verließ 1864 seine Stellung in Neuendettelsau, um eine ihm übertragene| Pfarrei anzunehmen, und im Frühjahr 1866 kehrte sein Gehilfe in den Anstalten, der damalige Conrektor Lotze, jetzt Oberkirchenrat in Gera Untermhaus, der ihm zehn Jahre lang treu zur Seite gestanden hatte, und in dem er damals seinen Nachfolger am Diakonissenhaus gefunden zu haben glaubte, in seine Altenburgische Heimat zurück, von wo er später an die Spitze der lutherischen Landeskirche von Reuß jüngere Linie berufen wurde. Derselbe war auf Wunsch Löhes, der, wie gesagt, seit der an Pfingsten des Jahres 1863 erhaltenen Todesmahnung ernstlich darauf bedacht war, sein Haus zu bestellen, d. h. die kirchliche Zukunft des Diakonissenhauses zu regeln, von der Muttergesellschaft bei ihrer Generalversammlung am Laurentiustage 1864 zum Hausgeistlichen erwählt worden, mit dem Auftrag, die geistlichen Funktionen an den Anstalten wahrzunehmen, allerdings, während der Lebensdauer Löhes, nur vicario nomine. Allein die wohlgemeinte Maßregel Löhes, sich bei Lebzeiten schon einen Nachfolger zu bestellen und selbst „abzugeben“ (wie der Dettelsauer Bauer sagt), so beruhigend sie für die Zukunft der Anstalten erscheinen mochte, erwies sich für die Gegenwart als verfrüht. Die neugeschaffene Stellung des Hausgeistlichen barg von Anfang an einen Keim von Schwierigkeiten in sich, die sich nur zu bald herausstellten und keine Lösung fanden als durch den Rücktritt des Hausgeistlichen; ein Ausgang, der ohne Leid und Weh für beide Teile nicht abgieng. „Es gelingt mir nicht – schrieb Löhe damals wehmütig an L. – mir Nachfolger zu erziehen; ich bin auch selbst zu wenig liebenswürdig und anziehend. Aber vielleicht geht es doch wie öfter, daß, die meine Erben nicht werden wollen, reiche Saat auf eigenem Gebiete streuen. Mein ganzes Herz jammert, daß ich so wenig bin und auch andern sein kann und immer einsamer und absterbender werde.“ So war eine doppelte Lücke, und zum Ersatz nichts vorhanden als die jugendliche Kraft eines eben aus der| Esse gekommenen Anfängers, der überdies bereits ein Lehramt an der Neuendettelsauer Missionsanstalt bekleidete, des damaligen Candidaten J. Deinzer. Es blieb nichts übrig als daß Löhe, der Erleichterung suchte und bedurfte, sich mit noch schwererer Arbeitslast als vordem belud, von der ihm erst im Lauf der Jahre der genannte Vicar einen größeren, aber bei weitem nicht ausreichenden Teil abnehmen konnte.[3]
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 Nach weiterer Hilfe für die Arbeit am Diakonissenhause sich umzusehen hielt Löhe nicht blos die Schwierigkeit, eine geeignete Persönlichkeit zu finden, sondern auch die übertrieben zarte Rücksicht auf die finanzielle Last des Diakonissenhauses, vielleicht auch noch andere Bedenken ab. Zu dieser Erschwerung seiner Arbeitslast kam noch der weitere Übelstand, daß gerade um jene Zeit Löhe oft der wünschenswerten häuslichen Pflege entbehrte, da seine Tochter, die in treuester, aufopferndster Weise für ihn sorgte und ihm einen Ersatz für die mit dem Tode seiner Gattin verlorene Häuslichkeit zu schaffen verstand, infolge schwerer Krankheit wiederholt über Jahr und Tag von Hause abwesend sein und in Bädern Heilung suchen mußte. So wohnte der alternde Mann zeitweilig allein im Pfarrhause; die Dienerin kam morgens und gieng abends weg; das Frühstück bereitete er sich, wie ehedem in seiner Verweserzeit selbst, ebenso sein Lager; zum Mittag- und Abendessen gieng er, auch zur Winterszeit, den nicht ganz kurzen Weg zwischen Pfarrhaus und Diakonissenhaus hin und her. Eignen Haushalt mit einer fremden Person wollte er nicht; eine solche Einrichtung, meinte er, würde Rücksichten auferlegen, die er nicht befriedigen, und Mittel fordern, die er nicht aufbringen könne – und in der That auch nicht besaß. Seiner Tochter schrieb er aus jener Zeit| einmal: „Das Haus ist gesperrt, ich öffne selbst. Tiefe Einsamkeit, völlige Stille! So soll’s auch bleiben. Kommst Du wieder, so sollen sich Dir alle Pforten wieder öffnen. Dir allein; außerdem ist ausgehaust.“

 Ein Glück nur, daß er die Einsamkeit gerne trug und in ihr kein Grauen fand. Für ihn war sie freilich auch Abwechslung mit ihrem Gegenteil, dem oft ermüdenden Verkehr mit und Angelaufenwerden von Menschen. So konnte er nicht nur den Wechsel von Einsamkeit und Gemeinschaft, Stille und Öffentlichkeit als das Normale im Christenleben, vor allem im Leben des Dieners Christi bezeichnen, sondern sogar das Glück der Einsamkeit preisen. „Die Ruhe meiner Nächte, die Stille meines Hauses“ – schreibt er einmal aus einer solchen Zeit tiefster Einsamkeit – „welch ein Glück.“ Aber wenn auch die Einsamkeit für ihn kein Grauen gehabt zu haben scheint, so fehlte ihm doch in den jetzt häufiger werdenden Elendsnächten und Wehetagen die lindernde, pflegende Hand. Auch wurde er allmählich hilfsbedürftiger. Es kam die Zeit, wo der strenge Grundsatz völliger Selbstbedienung und des Strebens nach völliger Unabhängigkeit von fremder Dienst- und Hilfeleistung ermäßigt werden mußte. Da war es denn ein von ihm selbst dankbar empfundenes Glück, daß er wenigstens in der letzten Zeit zunehmender Schwachheit sich der Nähe und liebenden Pflege seiner Tochter erfreuen durfte.

 Schon Ende 1869 überfielen ihn körperliche Schwächezustände. Fast ein Jahr mußte er auf das Predigen verzichten – für ihn eine bittre Entsagung. Wenn die Glocken läuteten, und seine Gehilfen (er hatte seit 1870 noch einen Privatvicar) giengen, an seiner Statt Gottesdienst zu halten, traten ihm die Thränen in die Augen. Er sagte sich ja täglich und stündlich, daß „abnehmen und abgeben“ jetzt sein gottgewiesener Beruf sei, aber die Ergebung in den abwärts führenden Lebensweg kostete ihm doch auch Kampf| und Überwindung. Manchen Seufzer, der die Bewegung seiner Seele verrät, hat er seinem, allerdings immer knapper werdenden Tagebuch anvertraut. „Obgleich ich weiß – schreibt er da einmal –, daß ich nach keiner Seite hin mehr lange, daß ich überall schwach bin, ist’s doch offenbar, daß es mir mit der Entsagung und Altsitzerei hart geht und daß ich ein harter Mensch bin. Gott helfe mir in Gnaden.“ Ein andermal: „Wo hinaus es mit mir gehen soll, weiß ich nicht. Wenn ich nur fürs Sterben recht bereit wäre! Meine Zeit geht vorbei. Ich bin oft bei meiner Leiche Ps. 90.“ Am Neujahrstag 1870: „Ich habe also wirklich das Jahr 1870 und seinen Anfang erlebt. N. hielt Predigt im Dorfe. Im Betsaal kein Gottesdienst. Ob ich wol wieder meinen eignen Lückenbüßer werde machen dürfen? Gott walt’s in Gnaden!“

 Nach zwei Seiten hin machte sich die Abnahme der körperlichen Kräfte besonders fühlbar. Die Stimme, die sonst löwenstarke, versagte ihm oft plötzlich den Dienst; die Füße wurden unsicher, Gehen und längeres Stehen war ihm infolge des zunehmenden Nierenleidens sehr beschwerlich. Wie manchesmal führte er jene Verse Shakespeare’s aus König Heinrich VI. an:

„Doch diese Füße von kraftlosem Stand,
Unfähig, diesen Erdenkloß zu tragen,
Sind leicht beschwingt vom Wunsch nach meinem Grabe,
Wohl wissend, daß ich andren Trost nicht habe.

„Ich habe aber doch bessern Trost,“ setzte er dann wol, den Dichter korrigierend, hinzu.

 Eine merkwürdige Weichheit überkam ihn. Er, der thränenlos am Grabe der Gattin gestanden hatte, konnte nun durch eine Kleinigkeit körperlich und gemütlich erschüttert und bis zu Thränen gerührt werden. Mit dieser Weichheit wechselte eine zu Zeiten hervortretende Erregtheit. Auch die geistigen Kräfte nahmen ab. Gerade bei solchen Größen im Reiche Gottes scheint es der Weg der Gnade zu sein, sie in die Tiefe und Kleinheit zu führen und| ihnen und andern zur schmerzlichen, aber lehrreichen Erfahrung zu zeigen, daß auch die geistige Begabung etwas ist, was dem Menschen ausgezogen werden kann, eben weil sie nicht zu dem gehört, was den sittlichen Kern der Persönlichkeit ausmacht. Daneben war dann doch auch, namentlich in Stunden, wo er sich körperlich wohler befand, ein Wiederaufleuchten der alten Geisteskraft wahrzunehmen. Es blitzten dann Gedanken auf von einer Kraft und poetischen Schönheit, die an seine besten Tage erinnern konnte. Ich entsinne mich namentlich einer Predigt vom II. Advent 1870 über Luc. 21, 25–33. Ein gewaltiger Orkan, der wenige Tage vorher über Neuendettelsau dahingebraust war – mit solcher Heftigkeit, daß er das Schieferdach des Betsaals abblätterte und den Dachstuhl zerstörte, bot, so zu sagen, den verjüngten Maßstab zur Vorstellung der vom HErrn „mit übermenschlicher Phantasie“ geschilderten Schrecknisse der untergehenden Welt. Die Frage wurde aufgeworfen, wie es denn der Gemeinde Jesu zu Mute sein würde inmitten einer vor Furcht und Erwartung der kommenden Dinge verschmachtenden Menschheit? Gewiß, lautete die Antwort, werde auch die Braut Jesu angethan werden von den Schrecknissen jenes Tages; dennoch aber werde ihr bei all dem Untergang und Graus um sie her zu Mute sein wie der Rahab, als sie die rote Schnur, das Unterpfand des Heils, in ihr Fenster knüpfte, oder wie der zu Ahasver hinzitternden Esther, bei der Furcht und Bangigkeit in dem Augenblick schwand, als der König gnadenvoll seines Scepters Spitze gegen sie neigte etc.
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 Selbst noch vom Jahr 1871 liegt mir die Nachschrift einer über das Evangelium des 4. Epiphaniassonntags gehaltenen Predigt vor, die Spuren seines Geistes zeigt. Er führte da in der Anwendung den Gedanken aus, daß wir in der Not nicht aufgeregt und unruhig wie die Jünger den HErrn um Hilfe anschreien, sondern im Glauben still und ruhig Seiner Hilfe warten sollen. „Wer den Glauben hat, meine lieben Brüder, der geht| nicht unter, der bleibt bei Jesus, der, auch wenn er einschläft, ein großer und mächtiger Gott bleibt, der alles unter sich gelegt hat. Die Jünger hätten durch die See und ihre Unruhe ihr Herz nicht empören lassen sollen, sie hätten stille sein sollen (zu Ihm), sie hätten für den schlafenden Jesus dem Winde wehren und ihn heißen sollen, stille zu sein. Es gibt Zeiten, wo der Mensch stille sein kann. Wenn der HErr schläft, da sollen alle Menschen schweigen. Wenn wir mit Ihm schweigen, wird Er mit uns wachen. Wenn wir aber den Glauben und den Glaubensmut verlieren, dann wird Er, der Hilfreiche, zwar helfen, aber Er wird uns tadeln, wie Er dort die Jünger tadelte: Warum seid ihr so furchtsam? Der, dem Wind und Meer gehorsam war, will nicht, daß wir in irgend einer Lage in Unruhe kommen sollen. Er verliert seine Wunderkräfte nicht, wenn er aus dem Meere ist. Im Gegenteil: des Meeres Ungestüm und seine Wellen heben ihn blos. So laßt uns Ihm denn folgen und Seine Wege gehen. – Wie schön paßt dieses Evangelium für uns! Wir haben auch das Meer wallen und seine Wellen gehen sehen, Wie hat sich unser Schiff bewegt. Wie hat es geschienen, als ginge mit uns das Schifflein unter – und siehe, Er hat Sein Schifflein gehen und uns mit Ihm fahren lassen, bis die Meeresstille kam und uns der Hoffnungsstrahl des Friedens (a. 1871) wieder geschenkt wurde etc.“ – Gewiß, in dieser wie in der S. 290 mitgeteilten Predigt ist noch Gedankengehalt, aber ein wehmütiges Gefühl beschleicht uns doch beim Lesen, ähnlich dem, wenn wir in diesen Octobertagen die letzten, spärlichen, farbenbleichen Herbstblumen auf derselben Wiese pflücken, die im Frühling in der Fülle ihres Blumenflors geprangt hatte.





  1. Löhe wünschte mit diesem Buch eine Lücke in der ascetischen Literatur unsrer Kirche auszufüllen.
  2. Löhe ist auch bewundernd vor der Sixtinischen Madonna Raphaels in Dresden gestanden. „Je länger ich schaute, sagt er, desto mehr erfreute mich das Bild. O der Christusknabe Raphaels und diese dienende hohe Magd, die ihn trägt. Die Holbeinische Madonna konnte mir nach jener nicht so sehr zu Herzen gehen.“
  3. Vorübergehend leisteten auch einige Candidaten durch Übernahme der Seelsorge in den Hospitälern etc. etwas Aushilfe, die aber nur von kurzer Dauer und an sich nicht bedeutend war.


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