Wilhelm Löhes Leben (Band 2)/Löhe als Beichtvater
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In der im Jahre 1864 verfaßten Pfarrbeschreibung sagt Löhe: „Die erste Zeit der Amtsführung des gegenwärtigen Pfarrers war wie die sechs Monate vorher, da Wilhelm Tretzel die Pfarrverwesung führte, eine Zeit der Erweckung. Diese Zeit aber würde spurlos vorübergegangen sein wie alle Erweckungszeiten, wenn auf sie nicht die Zeit der pastoralen Führung einzelner Gemüter durch den richtigen Gebrauch der Beichte gefolgt wäre. Hier in der tiefen Stille der Beichte und Absolution wird alles vorhandene Leben bis zur Stunde gepflegt und manch neues entzündet. Der Anbruch dieser Segenszeit gehört ins Jahr 1843.“
Wie es ihm gelang, die Gemeinde zur Uebung der Privatbeichte zu erziehen und das Beichtwesen überhaupt auf die Höhe zu bringen, auf der es sich bis gegen Ende der sechsziger Jahre behauptete, erzählt er selbst in dem zweiten der „Neuendettelsauer Briefe“, welche, von ihm verfaßt, im Jahrgang 1858 des Correspondenzblattes der Gesellschaft f. i. M. erschienen. Die hieher gehörige Stelle mag hier mitgetheilt werden.
„Als ich vor 21 Jahren, im Sommer des Jahres 1837, hier als Pfarrer aufzog, war fast der erste Mensch, der mir auf freier Straße begegnete, ein halb blöder alternder Junggeselle. Er redete mich freundlich an und sagte: ,Ich kann fein meine Beichte noch ganz gut.‘ Ich gieng frisch auf die Sache ein und rief ihm zu: ,So sag an.‘ Da sprach er denn| unter freiem Himmel vergnügt seine Beichte. Ich aber besann mich hernach, warum doch der arme Blöde auf den Gedanken gekommen war, mich gerade so zu begrüßen. Der Zusammenhang wurde mir bald klar. Ich hatte im Jahre 1836, also ein Jahr vorher, bei Raw in Nürnberg meine Schrift: ,Einfältiger Beichtunterricht für Christen evangelisch-lutherischen Bekenntnisses‘, und in den ersten Wochen des Jahres 1837 ebendaselbst meine ,Prüfungstafel und Gebete für Beicht- und Abendmahlstage‘ drucken lassen. Beide Schriften waren in der Diöcese Windsbach, innerhalb welcher ich zuvor als Pfarrverweser zwei Gemeinden bedient hatte, und zu welcher auch Neuendettelsau gehört, bekannt geworden, und da ich auch von der Kanzel und in den Christenlehren die Privatbeichte empfohlen hatte, so war mir in Neuendettelsau das Gerücht vorangegangen: ,Bei dem neuen Pfarrer muß man die Beichte wieder beten.‘ In den Jahren von 1837 bis zu Anfang des Jahres 1843 hielt ich nun allerdings allgemeine Beichten, aber ich benützte jede Gelegenheit, den Segen der Privatbeichte und Privatabsolution hervorzuheben, ohne daß von der Klasse der Landleute jemand auf den Gedanken gekommen wäre, um diesen Segen zu bitten. Nur das ist mir noch eine dunkle Erinnerung, daß zuweilen doch von den besseren Pfarrkindern männlichen Geschlechts eines und das andere um die Privatabsolution bat. Einmal pries ich auch in einer allgemeinen Beichte die Privatabsolution nach Würden vor einer sehr großen Schaar von Beichtkindern, und nachdem ich die Absolution im Allgemeinen gesprochen hatte, erklärte ich mich bereit, denen, die ein besonderes Verlangen hätten, nach geschlossenem Gottesdienst die Privatabsolution zu sprechen. Was geschah? Die ganze große Schaar blieb und begehrte privatim absolviert zu werden. Das war nun allerdings meine Meinung nicht.| Ich war früherhin Vicar im Fichtelgebirge, wo es bis auf den heutigen Tag gewöhnlich ist, die allgemeine Beichte zu halten und darauf, die Privatabsolution zu sprechen. Die seelsorgerische Erfahrung hat mich gelehrt, daß diese von Vielen gepriesene kirchliche Sitte noch mehr Bedenkliches hat, als die im mittelfränkischen Unterlande gebräuchliche Weise, die allgemeine Beichte zu sprechen und darauf die allgemeine Absolution zu empfangen. Es war mir auf dem Weg der Praxis, klar geworden, daß zu der Privatabsolution die Privatbeichte gehöre. Daher unterließ ich es auch, mich meinen Neudettelsauer Pfarrkindern zur Privatabsolution bereit zu erklären, freute mich aber, daß in der Gemeinde Sinn und Wille für die Absolution in diesem Maße gewachsen war. Einige Monate darauf las ich in einem Generale des kgl. Kirchenregiments von Bayern, daß die Behörde den Gebrauch der Privatbeichte da, wo er entweder eingeführt ist oder gewünscht werde, nicht hindern wollte. Als ich nun den nächsten Abendmahlstag abzukündigen hatte, las ich die Stelle auf der Kanzel vor und setzte dazu: ,Ich weiß schon, wie es bei Euch sein wird, Etliche von Euch werden die Privatbeichte wünschen, die Andern aber werden sie nicht mögen. Damit ich nun beiden Theilen gerecht werde, so will ich mich nächsten Sonnabend um 12 Uhr Mittags in der Kirche einfinden und Privatbeichte hören, und wenn das vorüber ist, wollen wir die Vesper und die allgemeine Beichte halten.‘ Am Sonnabend um 12 Uhr ließ ich in der Kirche nachsehen, ob einige Privatbeichtende vorhanden wären, und siehe, da hieß es, die ganze Kirche sei voll Leute. Da einer meiner Vorfahren den Beichtstuhl hatte zusammenhauen lassen, so hatte ich keinen Beichtstuhl, also gieng ich in die Sakristei der Pfarrkirche und empfieng nun stehend die Beichtlustigen. Der erste, welcher hereintrat, war ein alter großer und starker Mann, welcher sich| in den kirchlichen Aemtern, die er begleitete, manchmal nicht sehr willig und freundlich gezeigt hatte. In Anbetracht dessen sagte ich zu ihm, er möchte meine Abkündigung nicht falsch auffassen; es sei meine Meinung gar nicht gewesen, die allgemeine Beichte ganz zu verdrängen und etwa nur Privatbeichte einzuführen; es solle einem Jeden ganz sein freier Wille gelassen sein; ich müsse nur wünschen, daß auch die Privatbeichte wieder in Gebrauch und zu Ehren käme. Darauf schlug der Alte mit der Faust auf seine Brust und rief mit strömenden Thränen: ,Ich habe Sie bei der Abkündigung schon verstanden, aber ich will beichten.‘ Der zweite, welcher zur Beichte kam, war ein Mann, der, wo nicht der älteste, doch einer der ältesten in der Gemeinde war. Er legte seine Beichte ab, und als ich ihn absolviert hatte, küßte er mir freudenvoll die Hände dafür, daß er nun wieder absolviert sei, wie in seiner Jugend. So kam nun eins nach dem andern; wenige Beichttage reichten hin, so konnte man bereits merken, daß die Privatbeichte die herrschende in der Pfarrei werden würde. Nicht blos alle christlich erweckten, sondern überhaupt alle solideren und angeseheneren Leute machten den Vorgang, und so sehr folgte gleich anfangs die ganze Menge nach, daß zur allgemeinen Beichte sich nur Wenige, nicht der zehnte Theil der Beichtenden hielten. Es lag auch für den Seelsorger auf platter Hand, warum diese dem allgemeinen Zuge widerstrebten. So hielt ich denn von nun an immer Privatbeichte, dann Vesper, und nach der Vesper die allgemeine Beichte. Da kam es manchmal vor, daß hundert oder Hunderte von Beichtkindern privatim beichteten, und nur ein, zwei oder drei Beichtkinder zur allgemeinen Beichte kamen.Von den in protestantischen Kreisen empfohlenen Surrogaten der Privatbeichte (Hausbesuche bei den Pfarrkindern, seelsorgerliche Gespräche mit denselben auf der Studierstube des Pfarrers) hielt Löhe nicht so viel. An Kraft die Seele anzufassen, kämen sie alle der Privatbeichte bei Weitem nicht gleich.
Wie hoch Löhe die Privatbeichte schätzte, geht aus dem Gesagten schon hervor. Er erklärte sie für die von Segen triefendste unter allen Kirchenordnungen, für das edelste Gewächs der christlichen Freiheit, für das größte Erziehungs- und| Bildungsmittel des Volks. In dieser Hochschätzung beirrte ihn auch die Wahrnehmung des Misbrauchs nicht, der hie und da mit der Privatbeichte getrieben wurde. Er wußte und erfuhr, wie sie zuweilen zu einem Gaukelspiel voll Trug und Heuchelei, zu einem Tummelplatz der Leidenschaften erniedrigt wurde – und empfahl sie dennoch nach dem alten Grundsatz: ,Abusus non tollit usum.‘ Er empfahl sie und wurde Empfehlens nicht müde, obwol bei dem – namentlich seit Gründung der Diakonissenanstalt – sich immer mehrenden Zudrang von Beichtenden seine physischen Kräfte oft kaum mehr ausreichen wollten, um dem Bedürfnis der Absolution und Seelenrat begehrenden Beichtkinder zu genügen. Unter allen Thätigkeiten des Pfarrers – pflegte er oft zu sagen – kenne er keine abspannendere und ermüdendere, als die des Beichthörens. Der Samstag vor dem dritten von drei auf einander folgenden Sonntagen, dem regelmäßigen Communiontag der Dorfgemeinde, war von Morgens 10 Uhr an dem Beichthören gewidmet. Vor Beginn seiner eigenen beichtväterlichen Thätigkeit pflegte Löhe an solchen Sonnabenden selbst privatim zu beichten und die Absolution zu empfangen.So sehr indessen Löhe die Privatbeichte schätzte und empfahl, so war er doch – wie schon das oben mitgetheilte Bruchstück aus den „Neuendettelsauer Briefen“ zeigt – nicht gemeint, der sogenannten allgemeinen Beichte ihr Recht abzusprechen. Er erkannte im Gegentheil den Segen der der allgemeinen Beichte vorangehenden Beichtansprachen an, durch welche oft der bei unsern Landleuten so häufige Mangel eigner Bereitung einigermaßen erstattet, die Herzen zur Buße erweckt und für den Trost der Absolution empfänglich gemacht werden könnten. Darum hielt er an den Sonnabenden vor Abendmahlssonntagen die übliche Beichtvesper mit freier Ansprache, und wie oft wurde ihm da verliehen, die Herzen gewaltig zu rühren, sie mit dem Hammer der Bußpredigt zu zerschmeißen und Sehnsucht nach Gnade und Vergebung in ihnen zu erwecken. Welcher Schatz tieferbaulicher Schriftanwendung und seelsorgerlicher Weisheit würde dem christlichen Volke geboten werden können, wenn Jemand diese Beichtansprachen mit der Feder hätte festhalten können und wollen!
| Hier würde auch der Ort sein, ein Wort von der Art und Weise zu sagen, wie Löhe Zucht übte. Da wir aber im nächsten Band auf denselben Gegenstand zurückkommen müssen, so versparen wir eine eingehendere Darstellung bis dahin und begnügen uns hier damit, die leitenden Grundsätze Löhe’s betreffs der Kirchenzucht und seine Zuchtpraxis selbst kurz zu skizzieren. Löhe’s Grundsätze waren folgende: „Die Zucht ist eine Aeußerung der persönlichen und gemeindlichen Bruderliebe. Sie ist jedes Christen Recht und Pflicht.„Die Befolgung der Zuchtordnung des HErrn Matth. 18 ist wesentlich von der sittlichen Beschaffenheit der Gemeinde, von dem in ihr herrschenden Gemeingeist, von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit, kurz von dem Maß der in ihr waltenden Bruderliebe abhängig.
„Wo die Gemeinden, wie in den Massenkirchen, diesen Anforderungen nicht entsprechen, fehlt die Voraussetzung des Matth. 18 gegebenen Zuchtbefehls, d. h. es kann wol der erste und zweite, aber nicht der dritte Grad der Vermahnung vollzogen werden.
„Unerläßlich aber auch in diesem Fall, weil unabhängig von der sittlichen Beschaffenheit der Gemeinde, ist dasjenige Maß von Zuchtübung, welches in den Amtsbefugnissen eines Haushalters über Gottes Geheimnisse gegründet und daher auch ohne Mitwirkung der Gemeinde auszuüben ist.
„Das unerläßliche Minimum, weil das Wesentliche der Zuchtübung, ist die Abendmahlszucht, die darüber wacht, daß öffentliche unbußfertige Sünder nicht zum Tische des HErrn zugelassen werden.
„Die Kirchenvorsteher als Vertreter nicht des schlechteren, sondern des besseren Theils der Gemeinde sollen dem Pfarrer helfen, Abendmahlszucht zu üben.“
| Nach diesen Grundsätzen handelte Löhe und zwar in folgender Weise.Es herrschte ein großer Ernst in diesen Beichtanmeldungen, der Ernst thatkräftigen kirchlichen Handelns. Sie gestalteten sich zu einer Art öffentlichen Sittengerichts. Löhe selbst stand wie mit dem Flammenschwert des Cherub vor den Pforten des Heiligtums, wachend, daß kein Unwürdiger sich nahe. Man kann sagen: dasjenige Maß von Zuchtübung, welches bei dem gegenwärtigen Zustand der Gemeinden überhaupt erreichbar ist, war in der Gemeinde Neuendettelsau erreicht. Ja eine Reihe von Jahren hindurch, bis ein Inhibitionsbefehl des Kirchenregiments eintraf, war in Neuendettelsau eine Zuchtordnung in Uebung, die dem Vorbild apostolischer Gemeindezucht sich noch mehr näherte, als die oben geschilderte Einrichtung. Die Feststellung jener Zuchtordnung gehört indessen dem Zeitraum an, dessen Darstellung der Inhalt des nächsten Bandes dieser Biographie bringen wird, daher wir hier abbrechen.
- ↑ Der zweite Theil des Hausbuches, 1859 erschienen, gehört zu dem Herrlichsten, was Löhe geschrieben hat. Wer wissen will, was Löhe für ein Ideal des christlichen Gemeindelebens in der Seele trug, muß von diesem Buch, namentlich der herrlichen Einleitung S. 1–108, Kenntnis nehmen. Leider scheint dieses Buch in weiteren Kreisen kaum bekannt geworden zu sein.
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