Warum bleiben wir bei unserer Kirche?
bei unserer Kirche?
Da liegt unser fränkischer Landsmann, Christian Konrad von Hofmann, dessen Todestag der 20. Dezember ist, unter dem Schatten des Wortes aus dem vierundachtzigsten Psalm: „Gott, der Herr, ist Sonne und Schild“. Unweit von ihm schläft der teure Gottfried Thomasius, der Pfarrerssohn von Egenhausen, der das Wiedererwachen unserer Landeskirche zu gesundem, weil bekenntnismäßigem Leben geschildert hat. Über dem Geheimnis seiner Arbeit, Phil. 2, 5 ff, hat ihn der Herr abgerufen. Und neben ihm der fleißige und sorgsame Heinrich Schmid aus Harburg im Ries, dessen Bücher die Liebe zur Kirche schlicht und gewissenhaft verkünden. Sein großer Schwiegersohn, Reinhold Franz von Frank, hat seine Ruhestätte mit dem Psalmwort schmücken heißen, das seiner Lehre und seinem Leben Kraft, Würde und Stärke gab: „Bei dir ist die lebendige Quelle. Und in deinem Lichte sehen wir das Licht“, Ps. 36, 10. Als ich den Gottesacker verließ, warf ich noch einen Blick auf die Gräber derer von Raumer, des großen Naturforschers und Erziehers Karl von Raumer, seiner Söhne Rudolf und Hans, die zu Ehren der Kirche und des deutschen Volkes gelehrt und gezeugt und ihre Schätze in Gotteswort und Gottestat gehoben haben. Wie eine trübe, bange Weissagung steht, halb verwittert, auf dem Grabmal das Abschiedswort des Herrn: „Und dieweil die Ungerechtigkeit wird überhand nehmen, wird die Liebe in vielen erkalten“, Matth. 24, 12.
Dieses Wort kann ich mir nicht aus dem Sinn schlagen, so oft ich der Bewegung gedenke, die unser Altmühltal und| den Rieser Gau jetzt durchzieht, in denen vor fünfzig Jahren Löhe und seine Freunde ihr Bestes getan und gegeben haben, die von treuen, frommen Pfarrern so viel Gutes empfingen. „Was wir getan haben, da ist weder Glück noch Stern“, sagt Luther einmal, „aber unsere Fehler mutzen sie uns auf.“ Dieweil diese Ungerechtigkeit überhand nimmt, welche in der Kirche nur Schatten sieht und mit Behagen schwarze Striche macht, wo etwas zu rügen ist, muß die Liebe in vielen erkalten. Irre geworden an ihrer Kirche, der Mutter der Vorfahren, der Erzieherin ihrer Kinder, der Trösterin an Kranken- und Sterbebetten, fachen sie statt der tragenden und vertragenden Kindesliebe, die geflissentlich ertötet wird, eine Glut an, deren Wohlmeinen zu bezweifeln ich ebensowenig Grund habe, als ich mich ihrer freuen kann. Denn „was Menschen machen, das macht sich nicht“. Sollen wir nun tatenlos das Feld räumen und dadurch beweisen, daß wir es längst nimmer inne hatten? Sollen wir uns in Klagen ergehen, die unsern Gegnern – daß ich sie so nennen muß! – wie Musik ins Ohr schallen?Es ist nicht lutherische Art, sondern hereingetragene Unart, über die Schäden wohlfeil zu jammern und über die bösen Zeiten zu zetern. „Es hat kein Jahrhundert ohne böse Zeiten gegeben“, sagt ein großer Theologe und jedes Jahrhundert hat die seinen für die bösesten gehalten. Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben, dieses Gespenstes mit hohlen Augen und bleichem Gesichte, als ob nun alles verloren wäre, sondern uns befohlen, zu lernen und zu bessern und die Herrlichkeit Gottes zu schauen, indem wir ihm trauen. Darum wollte ich auch gerne vor dieser Versammlung bei aller Anerkennung unserer Versäumnisse, unseres Gewohnheitschristentums, das in Formen und Formeln erstarkt und den Geist entweichen zu lassen droht – anderwärts freilich wird die Zeit der „Methode“ auch kommen und noch krasser töten – und bei willigem Lob alles dessen, was andere statt unser getan und gearbeitet haben, hier die Frage aufwerfen, um die es sich in der gegenwärtigen Lage der Dinge allein handelt: Warum bleiben wir bei unserer Kirche?
Wie die Vögel unter dem Himmel ihre Nester haben und die Zeit wissen, wenn sie wiederkommen sollen, und die Tiere des Waldes ihre Gruben und Schlupfwinkel, so ist dem Menschen die Lust an dem Heimischen und Altvertrauten eigen. Der Rauch der Heimat glänzt anders im Sonnenschein als der in der Fremde, der kleine Fluß, der durch das Wiesengelände hindurchzieht, ist unvergessen. Der Klang der Glocken auf dem heimatlichen Kirchturme stimmt reiner zum Gebet. Denn alles hat Geschichte gehabt, ehe die unsere begann, und hat dann und darum die unserige eingenommen und bestimmt und wird auch die Lebensformen derer, die nach uns kommen, beherrschen. Der alte Stuhl, auf dem Vater und Großvater uns erzählten, ist aus der Mode, aber nicht aus der Liebe gekommen und die alte Bibel mit vergilbten Blättern, über denen unsere Mutter und Großmutter saßen und weinten, denen sie ihre Sorgen anvertrauten und aus denen sie den Segen und die Siege ihres Lebens holten, ist längst durch eine neue ersetzt worden. Aber am Sonntag greifen wir wieder nach ihr, und wenn wir Blatt um Blatt bedächtig umkehren, treten all die teuern Gestalten mit der Mahnung zu uns heran: halte, was du hast! liebe deine Kirche, ihre Rechte laß dein Lied sein im Hause deiner Wallfahrt! Man hat mit der Wolke und Schar vollendeter Zeugen wieder Zwiesprache gehalten und ist in ihrem Frieden zum Frieden gelangt.
Ihr haltet noch auf altväterliche Sitte und tut wohl daran. Wenn die Trachten des Landvolkes dahinfallen und es sich seiner Sprache schämt, hochdeutsch statt fränkisch reden und die guten starken Tuche um des modischen Flitters willen opfern mag, dann trauert der Freund und Seelsorger der Gemeinde. Denn in der Sitte liegt ein Damm gegen Neuerung und ihre Unsitte, gegen das verhängnisvolle und verheißungslose Tasten, Suchen und Versuchen. Wir freuen uns, um von Höherem zu reden, wenn bei der Nennung des hochgelobten Namens das Haupt geneigt, beim Läuten der Abendglocke noch gebetet wird. Es ist mir so erquicklich gewesen – ich kann es meiner Heimat nie vergessen – als ich vor Jahren an einem Freitagmorgen in der Passionszeit durch den Altmühlgau| ging und nun von allen Dörfern her die Glocken schallten und die Leute zu der Kirche gingen, um das Leiden ihres Herrn zu begehen. Nenne man es Gewohnheit, aber niemand soll sie schelten! Spreche man von der Macht des Herkommens, niemand soll es uns stören! An Gewohnheit und Herkommen setzt sich leicht Rost an, aber den Rost beseitigen ist besser als Goldblech einführen. Halte, was du hast! Nicht: wähle Neues, ehe das Alte verbraucht ist!Um unserer Väter willen, ja aus Gewohnheit sind wir Lutheraner. In dieser Gegend haben sich viele Salzburger niedergelassen. Die Namen bezeugen es und der „Schaitberger“, das ist, sein Sendbrief beweist es. Warum haben eure Väter vor hundertsiebzig Jahren ihre schöne, bergereiche Heimat verlassen und mit dem Flachlande vertauscht und das Heimweh überwunden, das ihnen so hart zusetzte? Weil sie ihren Glauben bewahren wollten, den teuern, durch die Jahrhunderte in Lied und Spruch und Wort bewährten teuern Glauben. Sie haben für ihn einen guten Kampf gekämpft und ihren Feinden Achtung abgenötigt, als sie so gar arm, nur die Bibel unter dem Arm und den Wanderstab in der Hand, von dannen zogen. Und dieses Bekenntnis soll unwert sein, für das gelitten, gestritten und gestorben ward? Die Geschichte soll nichts mehr bedeuten und das Augenblicksgefühl, dieses schwächliche, lebensunfähige Kind einer ungesunden Verbindung von Erregung und Phantasie, soll alles sein? Die kernfeste Art der Väter wird verachtet, die neuesten Fündlein sollen gelten. Dort die Beweisung in Geist und Kraft und Leben, hier die oft unklaren und unzusammenhängenden Einzelvorgänge, deren Wert im Persönlichen nicht verkannt werden soll, deren Gemeinverbindlichkeit aber nicht anerkannt werden kann! Der geschichtliche Sinn geht eben der modernen Heiligungsbewegung ganz ab, so im Rückblick wie im Ausblick. Sie kennt das Gewordensein nicht an, sie duldet auch nicht das Geheimnis langsamen Werdens.
Aber, hält man uns vor, ein Kirchenvater sagt doch nicht umsonst: „Christus spricht nicht: Ich bin die Gewohnheit, sondern: Ich bin die Wahrheit!“ Aus Gewohnheit Lutheraner sein ist ein Unding. Was man nicht erwirbt, hat man nicht zu eigen. Das Ererbte allein tut es nicht. Es ist wohl zu erkennen, daß in unserem Landvolke die Gewohnheit nicht nur eine tragende, sondern auch eine trägmachende Kraft ist. So braucht uns niemand erst als Neuigkeit mit Schadenfreude zu berichten, daß in sogenannten „kirchlichen Gegenden“, wo sichere Abendmahlszahlen| mit 100 bis 130 Prozent Kommunikanten freundlich die Statistiken zieren und den Ruhm der Korrektheit unangetastet erhalten, viel Unsittlichkeit, Jahrhunderte währende Bauernfeindschaften sich finden. Wir wissen auch vom Kirchenschlafe zu reden und möchten manchmal die alte Einrichtung aus Arnstadt wieder aufleben lassen, wo unter den niederen Kirchenämtern ein „Wecker“ seines Berufes waltete. Es ist uns Sorge, ob die herrliche Liturgie mit ihrem Konfiteor und der Absolution, am vierten Advent, am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag dreimal nach einander gebraucht, nicht mechanisch wirkt und abstumpft. Wir können nicht der Vermehrung der Liturgie das Wort reden. Aber wir wollen nicht das Altbewährte um seiner Gefahren willen, die nicht in ihm, sondern in uns liegen, aufgeben und hingeben, sondern uns heiligen, damit wir es heilig halten, wollen bei der Gewohnheit bleiben, die nicht gewöhnlich werden, sondern täglich neu erlebt sein soll.Aber prüfen mögen wir gerne, ob denn unsere kirchliche Gewöhnung auch wert ist, gehalten zu werden. Wir müssen ihren Grund prüfen. Dieser ist Luthers Tat in Gottes Kraft und nach Gottes Geheiß. Darum bleiben wir zum andern bei unserer Kirche um Luthers willen.
Er hat das Beten gelehrt, nicht frei in mäßigen deutschen Aufsätzen langatmiger Weise mit etwas religiösem Zuckerguß, sondern schlecht und recht, kernig und kräftig, warm und wahr. Luther schilt das freie Gebet nicht. „Aus dem Buche bete ich, was ich soll, aus dem Herzen bete ich, was ich mag.“ Veit Dietrich bezeugt, wie er auf „Gobruk“, seinem Patmos, „drei Stunden des Tages, so zum Studium am tauglichsten gewesen“, im Gebete zugebracht habe. Das war freilich nicht jenes Gebet der Erregung, in dem man geistlich unkeusch wird, Gott Dinge öffentlich vorträgt, die zwischen der Seele und ihm ein Geheimnis bleiben müssen, sondern das war Schriftwort an Schriftwort, aus der Tiefe zu den Bergen der Hilfe emporsteigend. Denn „so oft ich bete, seh ich den Mann am Kreuz!“
Der Katechismus, faßlich den Geringen und den Großen nicht zu klein, wird in unsern Tagen viel zu wenig geachtet. Und doch zeigt er uns den Sitz unserer Krankheit, zeigt auf den Arzt und lehrt, wie man zu dem Arzte kommen könne. Er ist der Anfang jener kerngesunden und heilkräftigen Erbauungsliteratur, an der unsere Kirche so reich ist, mit der sie so viele reich macht. Ihre Kennzeichen sind Schriftgemäßheit in schlichter, lauterer Ausführung der Schriftgedanken und Innerlichkeit bei praktischer Verwertung des Schrifttextes und dessen Beziehung auf das Leben. Ob wir uns die heiligen Betrachtungen des Johann Gerhard oder Arnds und Scrivers unvergeßliche Bücher oder die altwürttembergischen Väter vor nehmen, wir haben immer gesunde, heilsame Lehren und eine klare Auslegung, die still und durchsichtig aus dem ewigen Quell dahinfließt. Die wild erregten Wasser der modernen englischen Traktate, überhaupt das Traktatentum mit abgerissenen, fiebernden Sätzen, in Wiederholung eines nicht einmal klar gefaßten Gedankens, mit tumultuarischen und aufregenden, gleichsam wirbelnden Worten in maßloser Willkür der Schriftverwertung, sind unserer Kirche fremd. Solange ein lutherischer Christ sich nicht berühmen kann, in seinem Eigenen heimisch zu| sein – ich erinnere dabei an die trefflichen Abendmahlsbücher, so an das alte „Nürnbergische Kommunionbuch“ von 1743 – solange sollte er diese neumodische Dutzendware, in der einer den andern durch Willkürlichkeit überbietet und wundersame Gedanken den inneren Mangel mühsam verdecken, ernstlich meiden. In dem kleinen Buche „Luthers Trost in allerhand Traurigkeit“ aus dem Calwer Verlag steckt mehr Lebenswahrheit und Trostkraft und Siegesgewißheit als in aller „Trostbundliteratur“.Daneben hat unser Kleiner Katechismus in seiner „Haustafel“ die Fülle der Weisungen für das praktische Leben und seine Pflichten. Luther war eben nicht nur Tröster, sondern auch Lehrer und Seelsorger für wahres, festes Christentum. Aus dem mit wenigen knappen Strichen gezeichneten Bilde eines rechten „Haus- und Amtschristen“ erklärt sich das ganze reiche Leben lutherischer Sittlichkeit, wie sie der beste Dolmetscher lutherischer Gesamtanschauung, der selige Adolf Harleß, in seiner „Christlichen Ethik“ entwickelt und in seinen Vorträgen über „Kultur- und Lebensfragen“ verfolgt hat. Nicht die einzelne Tat macht den Christen, sondern der Christ adelt und heiligt die einzelne Tat. Die Summe guter Werke „in künstlicher Mortifizierung“ – „Ertötung“ würde Luther sagen – macht mit nichten den Christen in seinem Lebensbestand aus, sondern der Christ, im Glauben ein Herr aller Dinge, deren er allenthalben Macht hat, ist in der Liebe jedermann zu Dienst und Willen und unterläßt, was ihm nicht abträglich sein müßte, den Bruder aber kränken und stoßen könnte.
Freilich die Menge von Fragen, an deren präziser Lösung der ungesund gewordene Methodismus und Pietismus unserer Tage sich versuchen und erproben, kennt unsere Kirche nicht. Sie verschmäht es, ein Register von Erlaubtem und Unerlaubtem aufzustellen, in das zu seiner eigenen Entlastung das bequem gewordene Gewissen hineingreift, um alles Prüfens und Denkens ledig zu gehen. Was würde unser Vater in Christo mit dem hellen, weltoffenen und weltfrohen Blick, der gleichwohl ganz der Heimat zugewendet war, sagen, wenn er diese glatte, reinliche Scheidung von Recht und Unrecht, die Ausgetanheit aller offenen Fragen sähe! Mich däucht, er würde rufen, was er einmal Melanchthon gesagt hat: „Man kann Gott auch durch Feiern ehren. Unser Herr Gott will hurtige, fröhliche Gesellen, Freude mit guten frommen Leuten, obgleich ein Wort oder Zötlein zu viel, das gefällt Gott wohl!“ Wer einen Brief schreiben kann, wie den an Wolf Sieberger „mit| Silberwolken des Humors auf dem tiefgründigen Himmelsblau seines Glaubens“, hat mehr für Christus getan als mancher andere, der von „sündgem Reden und üppgem Lachen“ zu tadeln weiß und zwischen dem „Alles ist euer“ Pauli und dem „Eins ist not“ des Herrn nicht die richtige Verbindung ziehen kann. Luthers Grundanschauung umfaßt alle Gebote Gottes in dem gleichmäßigen Grunde: „Wir sollen Gott fürchten und lieben“. Aus der kindlichen Ehrfurcht und der erfinderischen Dankesliebe erfließt ihm das ganze Christenleben, ein Strom des Dankes durch alle Breiten und bis in die fernste Weite. Neuerdings liebt man es, die eine Guttat vor der andern auszuzeichnen, falsche Unterschiede aufzustellen, Grenzlinien zu ziehen, bis zu denen das Christentum zu gehen hat, jenseits deren es aufhört oder in minderer Vollkommenheit thront. Aber Sittlichkeit, deren Bestimmung der Mensch vernimmt, und Opfer, die man sich mit diesem Namen wählt und auferlegt, hören auf zu sein, was sie sein möchten. Für beide hat Gott selbst Regel und Ordnung gestellt.
Luthers Katechismus, dieses Lehr- und Trost-, Gebet- und Lebensbuch, würde allein uns zum Dank verpflichten für die große Wohltat, die keine Kirche so kennt und hat. Aber das ist nur eine Gabe aus der vielfältigen Weisheit, die der Herr in diesen Mann gelegt hat. „Mehr als durch seine Schriften hat er durch seine Lieder geschadet“, tadeln die Gegner. Und wir preisen die Würde und den Wohllaut des lutherischen Chorals. Selbst ein Meister auf der Laute und von heller, zarter Stimme, griff er in die Harfe, allen Gottestaten zum Preis, allen Gotteskindern zur Lust.
An Weihnachten klingt das „Gelobet seist du, Jesu Christ“ aus der Tiefe des Geheimnisses herauf. Das Kinderlied, „auf die kindlichste Weise zu singen“, bringt seine Größe auch den Armen nahe, zu denen der Herr sein Herz kehrt. „Mit Fried und Freud ich fahr dahin“: ein schöner Schwanengesang, zum Abschied aus dem alten, zur Stärkung für das neue Jahr wohl zu singen. Um das Kreuz rankt sich das Lied anbetend empor und an Ostern jubelt es: „Christ ist erstanden“ und „Jesus Christus, unser Heiland“. Himmelfahrt und Pfingsten steigen herauf. „Christ fuhr gen Himmel“, „Komm, Heilger Geist, Herre Gott!“ tönt es ihnen majestätisch entgegen. Und dem Abschluß der festlichen Zeit antwortet das wundersame „Jesaja dem Propheten das geschah“ mit seinem „Dreimal| heilig“. In das tägliche Leben jubelt und klingt das „Nun freut euch, lieben Christen gmein!“ mit der Lobsagung für alles, was der Herr Gutes an unserer Seele getan hat. Aber mahnend und warnend kommt dann „Dies sind die heiligen zehn Gebot!“ Dem Ehestande gilt sein Lied und den „gemeinen Kindern“ aller Stände und Lande, bis es in das ernste ‚Memento mori‘ des „Mitten wir im Leben sind“ ausklingt. Über allem aber tönt und dröhnt sein Sturmgesang und Schlachtlied, das mit trotzigen Tönen anhebt und mit siegesgewissen Klängen hinausschmettert, hinaufjauchzt bis in die ewigen Höhen: „Ein feste Burg ist unser Gott“ ... „das Feld muß Er behalten!“ Mit diesen Akkorden in göttlicher Reichsunmittelbarkeit hat Luther den deutschen Choral intoniert, so voll und rein, so reich und tief, und ein Heer gottseligster Sänger ausgerufen. Alle Klänge, die das Menschenherz erregen und bewegen, erwecken und erschrecken, trösten und erquicken, sind nun gelöst. Worte werden zu Musik, die Musik kleidet sich in Worte. Die Weise schmiegt sich an die Dichtung, der Sang an die Melodie an. Da ist keine Sprache noch Rede, da man nicht die Stimme des Chorales hörte!Die großen Tonmeister haben den Choral figuriert, einbezogen, durchgeliebt und durchgebetet. Und eine lichte Wolke von Zeugen an dem Orte, wo „die lieben Engelein selbsten Musikanten seind“, bezeugt es im tausendfachen Chor der Anbetung, was ihnen, als sie noch „ferne in ihrem Tränenlande“ waren, der Choral gewesen ist, in den sie ihr Herz hineinlegten, aus dem sie ihr Heil gläubig holten. Wo besitzt eine Kirche solche Geschichte in Sang und Klang? Hat Rudolf Kögel Geschichten zu den Psalmen gesammelt, so täte es wohl not, eine Geschichte nicht des Kirchenliedes zu schreiben – die ist längst geschrieben und von einer Geschichte der Melodien begleitet, ein Meisterwerk zum andern gesellt – wohl aber zum Kirchenliede: der lutherische Choral in der lutherischen Kirche. Da würde mancher Seitenblick lehren, daß unsere Widersacher nicht nur denken nach Luthers Weise oder reden mit seinen Worten, sondern auch singen, wie er singen lehrte.
An diesem ungehobenen, unausgebrauchten Schatze geht eine Schar von Lutheranern vorüber und nimmt aus dem: „Reichsliederbuch“ – ein bitterer Vergleich liegt nahe! – diese süßlichen, kernlosen Lieder und diese saftlosen Melodien, die mehr sinnlich als erbaulich wirken. Ein reicher, wohlbebauter Garten voll von „Gewächsen schönster Art, stehend in Blust und Lieblichkeit“, wird verschmäht und daneben liegt| ein Gärtlein mit lauter Küchenkräutern und etlichen bunten, grellen Zierpflanzen, der wird erwählt. Ob es größeren Undank gibt als diese Verkennung des Besten, nur um etwas Besonderes und Eigenes zu haben und möglichst ungeschichtlich das Neueste an Lied und Weise zu führen? Die Lieder regen auf, aber vertiefen nicht, sie entzünden, aber sie erwärmen nicht. Sie haben etwas Fremdes und Unbräuchliches, ihre Melodien sind dem Empfinden unseres Volkes zuwider. Wir wissen wohl, daß geliebte Choräle die Volksweise verwertet, ja zuweilen ganz angenommen haben. Aber die alte Volksweise hatte etwas Getragenes, Ernstes. Die neue englisch-amerikanische Meetingweise trägt das Ungeweihte und Ungereifte an sich. Der lutherische Choral dringt ein, diese Weisen drängen sich auf. Aufdringlich ist nicht eindringlich. Unser Lied ist allumfassend, das „Reichslied“ beutet etliche Gedanken aus. Aber es ist ein anderer Geist, in dem alles geschieht, der eines vorordnet, anderes verwirft und auf einen Vorgang alles, auf die höchsten zu wenig hält.
Die Lutherbibel wieder auf den Hausaltar, den unser Vater errichtet hat, als er selbst in die Ehe trat und den Hort vieler guter Dinge und Reichtümer, das evangelische Pfarrhaus, stiftete, über das freilich neuerdings gar abschätzig geurteilt wird! Es soll mit schwerem Herzen zugegeben werden, daß manche Pfarrhäuser an Weltförmigkeit und Liebe zur vergänglichen Lust sich kaum überbieten lassen. Wir könnten genug Bedauernswertes feststellen, nicht indem wir einzelne Verfehlungen herausgreifen, sondern indem wir den Gesamtton zu beklagen haben, der in evangelischen Häusern herrschen kann: den Geist der Gebetslosigkeit, der Müdigkeit und Geschäftsmäßigkeit. Aber den Unterstellungen, als ob wir Geistliche, weil wir vom Evangelium uns nähren müssen, es mit ihm nicht ernst meinen könnten, wollen wir mit aller Entschiedenheit begegnen! Viele unserer Gegner, die alltäglich dem ungegorenen Gerede mancher „Brüder“ mit inbrünstiger Andacht zuhören, wenn sie beispielsweise über Sauls Sohn, Abinadab, predigen, in dessen Namen die Frage liege, ob ich wohl hingelange – tappe – zur himmlischen Stadt (!), wissen nicht oder wollen es nicht acht haben, welche Kämpfe mit Zweifel und Sorge, mit den Anläufen der neuen Kritik, mit dem Gelernten und Gelesenen ein armer Pfarrer zu bestehen hat, bis er am Sonntag vor die Gemeinde treten und ihr all das sagen kann, was sie zu hören und zu erfahren gekommen ist.
Die Laienprediger reißen das Wort an sich. Mit dem souveränen „mir ist es so“ setzen sie sich über allen Zusammenhang der Stelle, über die Gesamtanschauung des betreffenden Buches hinweg und lassen den Text den Nagel sein, an dem sie ihre „Betrachtung“ aufhängen. Und sind also diejenigen, welche eine Wissenschaft zum Lebensberuf gemacht und ihre Nahrung derselben zu danken haben, minder vertrauenswert als „ungelehrte Laien und freie Brüder“? Nach dieser Logik wäre der Rechtsunkundige der beste Richter und der Naturarzt der beste Operateur und unsere Gymnasien müßten von Sprachunkundigen geleitet werden! Denn „der Geist tut alles!“ Er darf auch ungestraft Mißtrauen zwischen Hirten und Herden säen, die verborgene Treue, die ein Pfarrherr nach dem Herzen des Erzhirten, um den man „einen| Finger, ja seine ganze Hand“ geben soll, übt, die stille, anspruchslose Güte der Pfarrfrau als Berechnung verdächtigen. Gott sei Dank für den unübersehbaren Segen, der seit dreihundertachtzig Jahren aus dem Pfarrhause über unsere Kirche gekommen ist, und unvergessen sei Luther, der „unser Amt zu einem andern Ding gemacht hat!“ „Ist dem Herrn Christus ein treuer Pfarrherr genugsam, so sollte er auch uns genugsam sein, die wir um ein Merkliches geringer sind als Christus!“Wir bleiben bei unserer Kirche um Luthers willen, auf den zu halten freilich jetzt unmodern ist, obgleich Wesley, der doch der modernsten Bewegung recht im Blute steckt, durch Luthers Vorrede zum Römerbrief gewonnen wurde. Wir halten an dem Bekenner von Worms: „nur kein gottloses Stillschweigen!“ Wir lieben den demütigen Lehrer: „In alle Gefahren und Versuchungen laß mich fallen, Herr mein Gott, nur nicht in Hochmut! Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, wir sind Bettler“. Der Beter von der Wartburg, dem drei Stücke den Theologen machen, Gebet, Nachsinnen und Versuchung in Amt und Leid, ist unser Vorbeter, der freilich nicht um Reisegeld betet, damit auch die Gattin ihn begleiten möge, und in den Stiefeln die Banknoten, in dem Brot am Frühstückstisch die Goldstücke findet, aber lehrt, wie man recht beten soll, daß „man ohne Wunder glaube“. Und so wenig wir gewillt sind, Deutschtum und Luthertum zu vermengen, weil Luthertum wie Christentum international sind, so möchten wir doch auch die echte feste, wetterharte deutsche Art in ihm ehren und Gott danken, der unserem Volke in Luther den rechten Bonifacius, den Mann guter Geschicke und treuer Wohltaten, geschenkt hat.
Wir haben an keinem Guten Mangel. Da ist sein reines, festes Wort, in wohl armseliger Fassung und ohne äußere Schöne, noch unserem armen Erkenntnisvermögen angepaßt, aber stark genug, es an ihm wachsen zu lassen, und voll Hoheit in seiner Kraft. Freilich will der Herr dieses Wort recht geteilt und nicht willkürlich zerstückelt sehen. Es tut nicht gut, einzelne Worte aus dem Zusammenhange zu reißen und sie so zu Schlagwörtern zu erniedrigen, die nur so viel Geschichte haben, als der Augenblick ihnen gönnt. Wir haben das Wort, hinter dem, in dem Christus steht, den geschriebenen Christus, in die Armut des Buchstabens gelegt, aber weit über sie hinaus bedeutend und gebend. Dieses Wort ohne zeitgeschichtlichen Hintergrund fassen nennen wir noch lange nicht Treue, so gewiß wir gegen diejenigen sind, die es als einmal gesagtes und gewesenes ohne Bedeutsamkeit für jetzt erachten. Ist es doch ein lebendiges, alle Lebensverhältnisse umfassendes, wie es aus der Ewigkeit in die Zeit, diesen geringen Abglanz der Zeitlosigkeit, gekommen ist. Man scheint gegenwärtig dem Alten Testamente in gewissen Kreisen den Vorrang vor dem neutestamentlichen Gotteswort geben und die Weissagung vor der Erfüllung lieben zu wollen, statt daß man die Weissagung in der Erfüllung sucht und ehrt. Durch dieses Wort, das, im Alten Testament verhüllt und noch in Umrissen, im Neuen Bunde klar und offenbar zu uns spricht, nicht in Lehrsätzen noch in fehllosen Entscheidungen, sondern als gottgeborene Faßlichkeit der unfaßlichen Gottesgüte, wendet sich der Herr an unsere Seele.
Neuerdings wird auf Eingebungen einer inneren Stimme geachtet, von der niemand weiß, von wannen sie kommt und wohin sie geht. Das subjektivistische und mehr künstlich erregte als durch Gottes Gnadensonne und Liebestun hervorgerufene Glaubensleben ist vielen das Höchste. Aber die inneren Stimmen und sonderlichen Offenbarungen haben etwas Bedenkliches an sich, was ihre Gläubigen selbst einzusehen scheinen, wenn sie die Unsicherheit durch Steigerung der Beteuerungen übertäuben wollen. „Ich bin gewiß, daß der Heilige Geist mich nötigte, heute über dies und jenes Wort| zu sprechen.“ Noch schlimmer, wenn das „mir ist so“, ohne auch nur von einem Versuche biblischer Begründung begleitet zu sein, in Sturm und Übertäubung einhergeht. Nach der Lehre unserer Kirche bezeugt das ganze, auch mir in entscheidendsten Augenblicken zugewandte Wort, daß ich Gottes Kind bin. Zu höherem Troste spricht es so oft in der Einzahl, damit der, Feind nicht meiner Seele hinter der Masse die Erquickung entziehen noch mich bereden kann, ich sei nicht gemeint. Dazu ist dieses Wort mit der Geschichte von Tausenden verbunden und in sie befaßt. Es festzuhalten, bedarf es nicht der Erregung, deren größerer oder geringerer Grad die Tiefe oder Höhe des Glaubenslebens bezeichnen soll. Was der eine Moment schenkt, nimmt der andere, und wo Erregung Ruhe schaffen soll, da ist Täuschung. Wir haben, halten das feste prophetische Wort, damit es uns halte. Es trägt uns, hebt und errettet. Dem „es steht geschrieben“ kann kein größerer Trost zur Seite gestellt werden. Aber eben geschrieben in seiner ganzen Fülle, Treue und Herrlichkeit!Die Verachtung der kirchlichen Ordnung ist doch nicht sowohl ein vollberechtigter Akt christlicher Freiheit als Verherrlichung einer andern Art von Gebundenheit, die man darum frei nennt, weil man sie sich selbst erwählte. Soll dieses Aufjauchzen und Aufstöhnen, Händeaufheben und Niederfallen wirklich ein Lebenszeichen sein? Kann man sich nicht in dergleichen hineinsteigern und in der Bewegung Ersatz für die Sache suchen?
Unsere Kirche will ihre Ordnung bewahren, bis Er sie zerbricht. So auch in der Gemeindebildung. Das Wort gründet und erhält die Gemeinde, weil es allein die gründenden und pflegenden Kräfte besitzt und mit dem ewigen Lebensgut in Verbindung bringt. Das von Gott Ausgegangene strebt und trägt zu Gott zurück. Und dieses Wort verbündet sich, in rechter Würdigung von Natur und Gnade, mit den äußern Elementen zur Heiligung und Verklärung alles Natürlichen. Den Vorgängen der Pflanzung und der Ausreifung entsprechend hat der Herr, zur ganzen Natürlichkeit sich rückverklärend, Taufe und Nachtmahl eingestiftet, denen unsere Kirche gläubig traut, im gehorsamen Verzicht auf Begreifen wie auf Schauen ganz dem Christuswort zugetan. Aber eben, weil sie das lebensvolle Wort erfahren hat als ein kräftiges, hilfreiches und wirkungsvolles, kann sie dessen Ehe mit der Naturgabe nicht mindere Kräfte zutrauen.
Wir beklagen, daß in ernsten Kreisen die Taufe so unterschätzt wird, als sei sie ein frommer Brauch, der aber nimmer geben könne, was man von ihm erhofft oder ihm zumutet. Was unsern Luther in der Stunde der Anfechtung getröstet hat und uns aus den Liedern der Kirche tröstlich zuströmt, soll Täuschung sein! Die Gewißheit der Gnade sei Traum und die Berufung auf empfangene Gaben Täuschung. „Die Taufe an sich gibt kein neues, wirksames Leben aus Gott!“ „Sie bringt höchstens mit der sichtbaren Kirche in Verbindung.“ Die „Wasserwiedergeburt“ wird verächtlich gemacht, Wiedergeburt und Bekehrung einfach gleichgesetzt. „Die Taufe ist die Aufnahme in den Vorhof der allgemeinen Christenheit.“ So der in Gemeinschaftskreisen hochgefeierte Jellinghaus in seiner schon dem Titel nach bedeutungsvollen Schrift: „Das völlige, gegenwärtige Heil in Christo“.
| Gewiß ist die Taufe ein Schatz, der mit Wucher umgetrieben werden soll: wir müssen werden, was wir sind. Man kann den Taufschatz im Schweißtuch vergraben und ihn ungenützt lassen. Aber der höchste Schatz wird doch in der Taufe gegeben. Wir wissen auch etwas von Belehrung, die eintreten muß, „so oft man verkehrt war“, die keine einmalige Tatsache, auch nicht das „Sichhineinstürzen in ein Leben göttlicher Sorglosigkeit“ ist, sondern eine täglich sich wiederholende Arbeit. Aber eben Arbeit nicht um ein zu gewinnendes, sondern um ein gewonnenes Gut, nicht Erwerbung, sondern Erfassung des Erbes. Das herrliche Tauflied von Paul Gerhardt: „Du Volk, das du getaufet bist!“ ist den Neuerern wohl nicht geläufig:„Es macht dies Bad von Sünden los
Und gibt die rechte Schöne.
Die Satans Kerker vor beschloß,
Die werden frei und Söhne
Des, der da trägt die höchste Kron:
Der läßt sie, was sein einger Sohn
Ererbt, auch mit ihm erben.“
„Die Taufe der Eingang in den Vorhof!“ Und dazu das apostolische Wort: „ihr seid gewaschen“, „ihr seid gereinigt“! Ist das nicht Vollbesitz der seligen Güter in Vergebung der Sünden, in Leben und Seligkeit? Gerade die Geringschätzung der Taufe und der in ihr geschenkten Rechtfertigung wirkt die bedenklichen Fehler in der Auffassung der Heiligung, wie wir noch sehen werden. Wo nicht der Reichtum ganz empfangen ist, kann seine Verwendung auch nicht ganz klar und richtig sein.
Zum grundlegenden das aufbauende und erbauende Sakrament des Altars! Das Nachtmahl, diese Kraft der Liebe mitten in und gegenüber unserem Verrate, versichert uns nicht nur seiner alle Sünde überwindenden Gnade aufs neue, sondern setzt uns in stete Beziehung zu seinem Heilstod und läßt die in ihm gepflanzten Reben an ihm erstarken. Aber nicht also, als ob das heilige Abendmahl eingesetzt wäre als Bewahrung des großen Geheimnisses „Christus in uns“, sondern als gnadenreiche Zueignung des „Christus für uns“! Das Abendmahl ist nicht zum Liebesmahl unter den Seinen allein umzugestalten, sondern die Gemeinschaft seines Todes und die Teilnahme an seiner Treue und die Gewißheit seiner Fürbitte sind die Früchte. „Mein Jesu, der du vor dem Scheiden“, dieses tiefe Lied von Rambach, muß sich nun so manche Umdichtung gefallen lassen, weil man sich nicht mehr an die Worte hält, so da stehen.
| Die Kirche, die in Wort und Sakrament sich erhält, ist dem Herrnbefehl und den in ihm gegebenen Gnaden treu. An ihr halten wir um Christi willen, den wir nicht meistern noch ergänzen noch verbessern können, treulich fest. Die Sicherheit des Glaubensstandes ruht nur auf seiner Tat, nicht auf unserer Lebensregung. Wir wissen uns nie in uns geborgen noch bei uns befriedigt, da „wir täglich viel sündigen und wohl eitel Strafe verdienen“, sondern bei dem, der, für uns zur Sünde gemacht, uns aus lauter Güte zu sich ziehen will. Wer auf der Gnade einschlafen wollte, wie Moab auf seiner Hefen, dem wird es nicht gelingen. Wer aber ihrem Leben froh sein Dasein befiehlt, wird zum Frieden kommen. Ich fürchte den neuen Christus, den erst unsere Liebesglut recht darstellen und lebensvoll machen müßte, die neuen Gnadenmittel, die nicht allen Mühseligen und Beladenen, sondern nur etlichen „Gläubigen“ zu teil werden. Luther hat in seiner vor dreihundertachtzig Jahren geschriebenen Schrift „Wider die himmlischen Propheten“ solcher Angst ernste Worte geliehen.
Aber sehen wir näher zu, wie leicht manche Sünden z. B. der Zunge genommen werden, sobald sie gegen Unbekehrte sich richten, wie in die freien Gebete geistliche Steckbriefe eingeflochten werden, in denen der liebe Nächste so klar gezeichnet wird als der betagte, im Weltleben beharrende, zur Erkenntnis nicht durchgedrungene, daß man füglich gleich den Namen nennen könnte, so merken wir, daß die Begrenzung der Sündlosigkeit ziemlich enge sein muß. Die „Beichten“, die bei den Versammlungen in Nebenzimmern gehalten werden, scheinen auch weit mehr auf grobe Irrungen und Darstellung von Stimmungsbildern sich zu beschränken, als auf die Prüfung der argen Gedanken des Herzens sich zu erstrecken. Wenn ich bestimmte Gebiete der sündigen Betätigung gleichsam reserviere, so kann ich es auf ihnen zu einer gewissen Abgewöhnung bringen. Aber die ganze Persönlichkeit will umgewandelt sein, deren größter Fortschritt in der Erkenntnis der Sünde besteht. Dinge, die mir vor Jahren klein und belanglos erschienen, stellt der Herr im Verlauf des Lebens ins Licht vor seinem Angesicht. Wir fürchten uns vor dem, der ins Verborgene sieht, und obgleich wir wissen, daß er zwischen uns und unserer Sünde steht und daß die Gnade noch viel mächtiger geworden ist, trauern wir doch über die Macht und Gewalt der Sünde. An dieser Vollkommenheitstheorie, die das Diakonissenhaus der Bekehrten in Vandsburg ins Leben gerufen hat, wird die ganze Bewegung scheitern und den Schmerz erleben müssen, daß das im Geiste Begonnene im Fleisch enden wird. „So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst“, ja wir machen Den zum Lügner, der sich nicht spotten läßt, sondern auf die Saat der Sicherheit die Ernte der Verzweiflung folgen lassen kann.
Um meinetwillen, der ich immer wieder in Sünden gerate, bleibe ich bei der Kirche, die mit mir in der Kraft des hohenpriesterlichen Hauptes Geduld trägt, die, in fortschreitender, nicht absteigender Bewegung auf einander folgend, 1. Kor. 15, 9. Eph. 3, 8 und 1. Tim. 1, 15 lesen und lehren kann. Je näher wir der Heimat kommen, desto heller erkennen wir unsere Sünde und lernen verstehen, daß keine Kreatur hat| können genugtun für unsere Sünde, denn allein Christus, „wahrer Gott und Mensch“. „Vor unseligem Großwerden behüt uns, lieber Herre Gott!“* *
Ich komme zum Schluß. Es ist unleugbar, daß große Schäden zu Tage treten, aber ebenso unbestreitbar, daß weder Kraut noch Pflaster, selbst wenn es englisches wäre, hier heilt, sondern allein sein Wort mit der Heilkraft, die Jahrhunderten genuggetan hat. Wir brauchen nicht neue Erfindungen, sondern bitten nur flehentlich um größere Aneignung und ernstere Betrachtung der ewigen Erlösung, die Jesus erfunden hat. Wir sehen in unserer Landeskirche, allgemeiner in der Volkskirche, die schweren Krisen, welche durch Irrlehre, durch Entleerung des Kreuzes Christi, durch Verachtung des göttlichen Wortes heraufbeschworen sind, durch totes Kirchentum und Schlaf und elende Trägheit festgehalten werden und Versumpfung und Verdumpfung herbeiführen müssen. Aber wir bestreiten unsern Gegnern, daß Kirche nur ein rein äußerlicher Begriff, ein „durch Satzungen, Ordnungen, Kirchenzettel dürftig zusammengeleimtes“ Scheinwesen sei, während die wahre Gemeinschaft „dem Frühbeete gleicht, aus dem alles Unkraut herausgetan und in dem so viel Licht und Wasser vorhanden sind, um die Pflanzen durchzuretten“. Wir halten die sechs Kennzeichen der Belehrung, welche Pastor Paul aufstellt, für zu wenig innerlich mit einander verbunden und wollen nicht aus dem, was sie fälschlich „Babel“ nennen, fliehen, solange Gott bei ihr drinnen ist. Es ist sehr bequem in einem kleinen behaglichen Hause, in seinen sauber getünchten vier Wänden sitzen und Zinnen und Mauern der umdrohten Stadt dem Falle preisgeben und diese Mitleidlosigkeit noch als Kennzeichen der Belehrung feststellen. Aber Gott hat uns den Geist der Kraft gegeben, der den Feinden allen, dem Unglauben und der Sicherheit, entgegengeht und mit offenem Visier kämpft und das Kämmerleinschristentum allein verschmäht. Zum Geiste des Glaubens und dem Heldenmute des Bekennens schenke er den Geist der Liebe! Wir wollen unserem armen Volke auf der Kanzel und vom Altar, in der Kinderlehre und am Krankenbett seinen Heiland vor Augen stellen und den armen Trost des „Noch“ nicht mit dem lieblosen „Nimmer“ ertöten, sondern, wo noch ein Segen ist, bewahren, an Vorhandenes anknüpfen und auch, die nicht wider ihn sind, tragen.