Von der Stätte des Elends
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„Reichthum Oben, Unten Elend“, diese Deutung der Anfangsbuchstaben der „Rechte-Oder-Ufer-Eisenbahn“, welche vor kurzem eine schlesische Zeitung brachte, kam mir unwillkürlich in den Sinn, als ich das „R. O. U. E.“ auf den Waggons des Zuges erblickte, der mich nach Oberschlesien führen sollte. Reichthum oben, unten Elend – wahrlich, für keinen Theil unseres großen Vaterlandes sind wohl diese Worte zutreffender, als für Oberschlesien, wo neben einem nicht selten in wenig ansprechender Weise sich breit machenden Luxus die stille Verzweiflung bitterster Armuth thatsächlich um das nackte Leben ringt. –
Das Gespräch im Coupé lenkte sich selbstverständlich auf den Nothstand in den Bezirken, denen uns das Dampfroß entgegenführte. Die noch vor wenigen Tagen von sehr Vielen vertheidigte Meinung, daß die Nothstandsnachrichten, wenn nicht völlig aus der Luft gegriffen, so doch wenigstens bedeutend übertrieben seien – diese Meinung war vollständig verschwunden, seitdem die Nachricht von dem Ausbruch des Hungertyphus in verschiedenen Ortschaften Oberschlesiens den traurigen Beweis für das wirkliche Vorhandensein von Hunger und Noth gebracht hatte. Alle möglichen und unmöglichen Vorschläge, in welcher Weise die Staatsregierung unverzüglich helfend eingreifen, wie sie nicht nur Geld und Lebensmittel, sondern auch Montirungsstücke aus den Militärdepots hergeben müsse, um dem Mangel an Kleidungsstücken abzuhelfen – wie eine allgemeine Nothstandssteuer für die ganze Monarchie ausgeschrieben und zur Behebung des Nothstandes in Oberschlesien verwendet – wie sofort zwangsweise ein Abzug von Menschen aus den übervölkerten Gegenden Oberschlesiens nach den minder bevölkerten des Staates angeordnet werden müsse – diese und ähnliche Vorschläge, wie sie auch in einzelnen Zeitungen erhoben werden, schwirrten in buntem Gewirre durch das Coupé und lieferten den Beweis, daß an Stelle des früheren Unglaubens ein rathloser Schrecken die Gemüther ergriffen habe. Die Sorge um das eigene Leben mochte wohl bei Manchen der Grund zu der plötzlich überströmenden Theilnahme für Oberschlesien sein, der Hungertyphus ist bekanntlich nicht leicht zu nehmen, er greift aus dem Bereiche der Hungernden, namentlich bei Eintritt wärmerer Witterung, gern auch in die Kreise der Satten hinüber. Vorläufig wehte freilich der Wind noch so eisig kalt, als ob wir in unmittelbarer Nähe des Nordpols uns befänden – 26° R. gehen auch für uns Norddeutsche etwas über die Hutschnur.
„Station Beuthen!“
Ich kletterte aus meinem Coupé und fuhr in einem Schlitten zunächst in die mir wohlbekannte Metropole des oberschlesischen Gruben- und Hüttenbezirkes hinein. Ich habe vielfach von Personen, welche Oberschlesien nicht kennen, die Ansicht äußern hören, das Land sei ganz ohne Comfort, biete nur unwegsame Straßen und niedrige Lehmhütten, in denen der Herdqualm und der Knoblauchsduft mit einander um die Herrschaft ringen und in denen ein roher Menschenschlag haust.
Dies trifft im vollen Umfange nirgend in Oberschlesien, am allerwenigsten aber im Hüttenrevier zu. Die Straßen sind hier fast durchweg gut, für gute und geräumige Arbeiterwohnungen ist neuerdings viel gethan worden, und wenn Verbrechen gegen Leben und Eigenthum hier häufiger vorkommen, als in anderen Gegenden, so wolle man in Betracht ziehen, daß in dem früheren Kreise Beuthen, der vor einigen Jahren in die vier Kreise Beuthen, Kattowitz, Tarnowitz und Zabrze getheilt wurde, auf einem Flächenraum von vierzehn Quadratmeilen eine Viertel-Million Menschen zusammengedrängt ist.
Die Stadt Beuthen – in früheren Jahren wurde sie gern „Klein-Breslau“ genannt – ist ein circa 20,000 Einwohner zählender, lebhafter und hübsch, theilweise sogar elegant gebauter Ort. Der Theil in der Nähe des Landgerichts kann sich dreist den besseren Stadtvierteln unserer Großstädte an die Seite stellen. Der Verkehr liegt jetzt freilich, wie überall, so auch in Beuthen darnieder; trotzdem ist ein eigentlicher Nothstand weder hier, noch, wie mir versichert wurde, im Hüttendistrict überhaupt vorhanden und auch, nach allen Erkundigungen, die ich eingezogen, nicht zu befürchten. Die Gruben- und Hüttenarbeiter haben hinlängliche Beschäftigung; den Landleuten bietet sich größtentheils Gelegenheit, sich während des Winters durch Anfahren der Galmei-Erde etc. nach den Hüttenwerken lohnenden Verdienst zu schaffen.
Auf den meisten Gruben- und Hüttenwerken ist neuerdings an Stelle der früheren cameradschaftlichen Löhnungen die Einzellöhnung der Arbeiter getreten, und dieselbe soll sich durchaus zum Vortheil der Arbeiter bewährt haben. Durch die Einzellöhnung erhalten die Arbeiter ihren Lohn alle vier Wochen auf einmal ausgezahlt und begeben sich hiermit zumeist direct nach ihren Wohnungen oder in das Geschäft, aus welchem sie ihre täglichen Bedürfnisse zu entnehmen pflegen. Früher dagegen, wo ein Lohnzettel mit der Gesammtlöhnung einem der Arbeiter zur weiteren Vertheilung übergeben wurde, war man gezwungen, die Theilung des Lohnes unter die Mitglieder der Knappschaft im Wirthshause vorzunehmen, wodurch selbstverständlich willkommene Gelegenheit zu cameradschaftlichen Trinkgelagen geboten und nicht selten ein großer Theil des sauer verdienten Arbeitslohnes am Löhnungstage schon verpraßt wurde. Auch wußte früher, wo es nur einen Gesammtlohnzettel gab, der einzelne Arbeiter, wenn er nach Hause kam, oft selbst nicht, was er erhalten hatte, oder wollte es aus naheliegenden Gründen der Frau daheim nicht mittheilen. Anders jetzt, wo jede Arbeiterfrau aus dem Lohnzettel des Mannes ersehen kann, was er verdient und was er etwa verjubelt hat.
Was die Arbeitslöhne der einzelnen Arbeiterclassen anlangt, so bestehen da Unterschiede, jedoch nur unwesentliche bei den einzelnen Gruben. Die Löhne betragen bei achtstündiger Arbeitszeit für Häuer etwa 1 Mark 50 Pfennig, Schlepper 1 Mark 25 Pfennig, Zieher 80 Pfennig, Klauber 50 Pfennig (!) für den Tag; die beiden zuletzt genannten Arbeiten werden, nebenbei bemerkt, zumeist von Frauen verrichtet.
Für Kranke, so weit sie Mitglieder des Knappschaftsvereins sind, sorgt der „Oberschlesische Knappschaftsverein“, welcher großartige Krankenanstalten in Königshütte, Zabrze, Myslowitz und anderen Orten unterhält, in umfassender Weise. Für andere Kranke ist das große Krankenhaus der barmherzigen Brüder in Bogutschütz neben zahlreichen Communalkrankenhäusern in verschiedenen Ortschaften bestimmt, unter denen namentlich das neue Krankenhaus in Beuthen Erwähnung verdient, das, außer sechs Badezimmern, Arztzimmer, Operationszimmer, Inspectorwohnung etc., siebzehn Belegräume mit hundertundacht Betten und ein Barackenlazareth mit vierunddreißig Betten enthält.
Der Armenpflege im Industriebezirk sind zahlreiche Vereine gewidmet, in der Stadt Beuthen allein acht, darunter sechs jüdische, obschon die Bevölkerung nur zum zehnten Theil aus Juden besteht. Diese acht Vereine wendeten im Jahre 1877 nahezu 20,000 Mark für Armenpflege auf, wovon über 15,500 Mark auf die jüdischen entfallen. Die Stadt Beuthen leistete 1877 zur Armenpflege einen Zuschuß von 15,884 Mark.
Die Verhältnisse Beuthens treffen mehr oder minder für den ganzen Hüttendistrict zu; sie mögen in einzelnen wie Pilze aus der Erde geschossenen Ortschaften, z. B. in Königshütte, Kattowitz, Zabrze etc., etwas ungünstiger liegen; ein Nothstand aber ist – ich wiederhole es – im Gruben- und Hüttenbezirke, trotz großer Armuth und kargen Verdienstes der arbeitenden Classe tatsächlich nicht vorhanden und auch nicht zu befürchten, wo neben dem Proletariat immerhin eine bedeutende Anzahl von vermögenden, zum Theil sogar reichen Personen existirt, somit die Einwohnerschaft vollständig in der Lage ist, die zu Tage tretende Noth aus eigenen Mitteln zu unterdrücken. Auch beweisen die [30] in allen nennenswerthen Ortschaften vorhandenen Suppenanstalten, Lebensmitteldepots etc., daß hier mit anerkennenswerther Umsicht rechtzeitig Vorkehrungen getroffen wurden, um einem solchen Nothstande vorzubeugen.
Anders freilich sieht es, wie ich mich überzeugt habe, trotz der ministeriellen Versicherung des Gegentheils – in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 9. December – wenigstens in einem Theil des Kreises Lublinitz aus. Ein mit zwei kleinen, aber außerordentlich schnellen Pferden bespannter Schlitten führte mich, nachdem ich mich zwei Tage im Hüttenrevier umgesehen, bei eisiger Kälte über Schorley und Neudeck, den Sitz des Grafen Henckel, nach Tarnowitz und von da nach kurzer Rast über Georgenberg nach Woischnik. Woischnik ist ein Städtchen, vielmehr Marktflecken im Kreise Lublinitz.
Die Anzeichen der dauernden Armuth, nicht nur eines vorübergehenden Nothstandes, mehren sich, je weiter wir uns von dem Hüttendistricte entfernen. Die am Wege stehenden Hütten sind von der erbärmlichsten Beschaffenheit; kleine niedrige Lehmbuden mit winzigen Fensteröffnungen, deren erblindete und zerbrochene Scheiben mit Papierstreifen überklebt sind, um dem gegen die Hütten peitschenden Schneesturm bei mehr als zwanzig Grad Kälte Trotz zu bieten. Ich bin in mehrere dieser Hütten eingetreten – anfangs auch in der Hoffnung, meine bei der grimmigen Kälte fast vollständig erstarrten Glieder einigermaßen wieder erwärmen zu können – später lediglich, um mich auf's Neue wieder zu überzeugen, daß das Schreckliche, was mir vor der Seele schwebte, kein Phantasiebild, daß es entsetzliche Wirklichkeit sei. Die Innenseite der Thür, die Wände des ungeheizten Zimmers starren von Eis und Schnee; in Lumpen gehüllt, vor Kälte und Hunger wimmernd, liegen in einer Ecke des unwirthlichen und unheimlichen Zimmers die Kinder auf feuchtem Waldmoos oder mit welkem, feuchtem Laub vermengter Waldstreu, und in der Mitte des Zimmers kauern mit hohlen Wangen und hohlen Augen, in der allernothdürftigsten Kleidung, die Eltern, mit vor Frost steifen Händen bemüht, irgend eine mechanische Arbeit zu verrichten, um, wenn möglich, noch eine Zeit lang das abzuwehren, was ihnen zweifellos droht, wenn nicht schleunige Hülfe naht: den Hungertod. Krankheiten und deren epidemische Verbreitung dürften hier unvermeidlich sein, wenn nicht bald von außerhalb dem Nothstande ein Damm entgegengesetzt wird. Die Leute leben wie das liebe Vieh, ja, was Nahrungsmittel anbelangt, häufig schlechter, als es dieses gewohnt ist. Der Hauptmangel aber besteht in Kleidungsstücken, namentlich beziehentlich des Schuhwerks. Hatte ich doch schon bei der vollständig abnormen Kälte in der ersten Hälfte des Monats December viele Personen, namentlich Weiber und Kinder, barfuß laufen sehen, das heißt in der That laufen, denn das Gehen müßte ihnen wohl nahezu so unmöglich gewesen sein, wie dasjenige über eine heiße Platte. Durch die geplanten Chaussee- und Eisenbahnbauten wird ja Arbeit und damit auch Brod für die arme Bevölkerung geschafft werden, aber zuerst muß für Kleidung gesorgt werden; schon jetzt könnten Viele auf den Besitzungen des Grafen Henckel in Russisch-Polen Arbeit finden, wenn nicht die Kleidung mangelte und nebenbei – das Geld zur Beschaffung eines Passes. (!) Die Kinder können die Schule nicht besuchen, denn sie haben keine Kleider; abgesehen vom Lernen, wäre ihnen wenigstens Gelegenheit geboten, täglich einige Stunden hindurch in der Schulstube die halb erstarrten Glieder erwärmen zu können.
In Woischnik und im ganzen östlichen und südlichen Theile des Kreises Lublinitz herrscht der bitterste Nothstand, zu dem sich vielfach, auch in den nicht direct davon ergriffenen Kreisen, eine gewisse Mißstimmung über die Art und Weise gesellte, wie in der genannten Gegend der thatsächlich vorhandene Nothstand bisher behandelt wurde. In erster Linie wurde eine vor Kurzem erschienene landräthliche Bekanntmachung vielfach einer herben Kritik unterzogen. Diese Bekanntmachung sprach sich mißbilligend über Zeitungsberichte aus, welche von einem „angeblichen“ Nothstande im Lublinitzer Kreise redeten, wie er nach Ansicht der Kreisbehörde nicht, wenigstens nicht in dem Maße, wie er geschildert werde, vorhanden sei. Derartige übertriebene Schilderungen seien nur geeignet, den Kreis zu discreditiren etc. Nebenher wurde über einzelne Großgrundbesitzer – nicht etwa über alle – bitter geklagt.
Was ich unterwegs in Bezug auf die Nahrung selbst gesehen, wurde mir in Woischnik vielfach bestätigt: das arme Volk nährt sich von Abfällen, die geradezu gesundheitsschädlich sein müssen. Wie es dabei mit der ärztlichen Gesundheitspflege in dieser Gegend bestellt ist, geht aus einem Urtheil des Dr. Bauer in Nr. 572 der „Schlesischen Zeitung“ hervor. Es heißt dort:
„Die Gesundheitspflege ist im Allgemeinen auf dem Lande eine erbärmliche. Ich sehe ganz davon ab, was man in dieser Beziehung für Ansprüche an Kleidung, Wohnung und Nahrung stellt, um Krankheiten zu verhüten; ich beschränke mich in meinem Urtheil nur auf die Fälle, wo Krankheiten bereits ausgebrochen sind und die Krankenpflege stattzufinden hat. Der Arzt tritt an das Bett des Kranken oft erst nach wochenlangem Krankenlager, oft, wenn es schon zu spät ist. Wir sind nicht immer im Stande, wennschon wir unsere Kunst kostenfrei zur Verfügung stellen, auch noch die Mittel für Arzenei und sonstige Bedürfnisse dem Kranken zu verschaffen, und doch wäre dies in den meisten Fällen nöthig.
Wo die Kosten nicht so bedeutend sind, wie es bei Krankenbesuchen über Land der Fall ist, springen wir wohl oft helfend der armen Bevölkerung bei, aber es sollte unter gewissen Umständen Princip bei uns sein, dies nicht zu thun – wenn es nur mit der Menschlichkeit zu vereinbaren wäre! Mir ist z. B. auf den Vorwurf, den ich vielen Dominialbesitzern gemacht habe, daß sie ihre Arbeiter ohne Arzt und Apotheke wochenlang darniederliegen lassen, die Antwort geworden: Sind wir denn verpflichtet, für unsere Arbeiter Doctor und Apotheke zu halten? – Ja, bin ich als Arzt denn verpflichtet, die Arbeiter der Besitzer kostenfrei zu behandeln, bin ich denn verpflichtet, auch noch die Arzneikosten zu bezahlen? Sind denn die Arbeiter bei einem Durchschnittslohn von fünfzig Pfennig pro Tag im Stande, die Kosten einer langwierigen Krankheit zu bestreiten? Wenn das nicht der Fall, dann hat doch wohl Derjenige die moralische Verpflichtung, zu helfen, der aus dem billigen Arbeitslohne den Vortheil zieht.
Die Gruben- und Hüttenarbeiter müssen ihren Knappschaftsarzt haben, die Arbeiter in den größeren Städten müssen sich in die Knappschaftscassen einkaufen; der Landarbeiter aber ist schlechter daran, als das Vieh. Der Kreisthierarzt macht mehr Dienstreisen in einem Jahre, als der Kreisphysicus, und mehr als ich in zehn Jahren. Kann dies besser illustrirt werden, als durch die Verfügung, die den Kreistierarzt, wenn in Rußland in der Nähe der Grenze Sterbefälle von Menschen während einer Epidemie erfolgen, anweist, sich zu instruiren, wie tief die Leichen unter der Erde bestattet und welche Desinfectionsmittel angewendet werden?
Bei Typhus und anderen Epidemien sind die Ortsbehörden verpflichtet, den Arzt herbeizurufen. Der Arzt kommt, er constatirt: ‚Das ist der Typhus‘; er verschreibt und ordnet an – aber wo bleibt die Ausführung? Denken Sie sich, was Gott verhüten wolle, wir würden von einer Epidemie hier überfallen! Die Menschen würden sterben wie die Fliegen im Herbstwetter. Die reisenden Bettler sind in dieser Beziehung viel besser gestellt, als die Kreis-Ansässigen. Wir haben von reisenden Handwerkern fast alle Jahre unsere Stammkunden im hiesigen Krankenhause, die oft aus sechs bis acht Wochen gute und liebevolle Pflege hier finden. Man hat so absprechend aber die Gesundheitspflege in russischen Districten geschrieben; man würde erschrecken über unsere Gesundheitspflege bei einer ausbrechenden Epidemie …“ So Dr. Bauer, ein angesehener Arzt dieser Gegend.
Der Nothstand im Lublinitzer Kreise ist eben ein alter; er ist ein dauernder und tritt jetzt nur etwas schärfer zu Tage, als gewöhnlich; Sache der Regierung wird es sein, diesem dauernden Nothstande durch geeignete Maßnahmen abzuhelfen. Man cultivire hier die auf einer sehr niedrigen Stufe stehende Landwirthschaft und die auf einer noch niedrigeren Stufe stehenden Menschen, in denen mit der Zeit durch geeignete Mittel der Erziehung und Einwirkung das ihnen mangelnde Selbst- und Ehrgefühl, namentlich die Willenskraft geweckt werden sollte. Es würde sie alsdann auch der Gutsherr mehr wie bisher als Menschen respectiren und behandeln müssen. Wenn für jetzt die Dinge unbeschreiblich traurig liegen, so bin ich für meinen Theil überzeugt, daß von [31] leistungsfähigen Besitzern des Elendsbezirks mannigfach nicht gethan wird, was zunächst von ihnen zu einer kräftigen Bekämpfung des haarsträubenden und himmelschreienden Jammers gethan werden müßte.[1]
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In der opferfreudigen Theilnahme, welche dem unglücklichen Oberschlesien aus allen Gegenden Deutschlands und aus allen Landen zugewendet wird, wo deutsche Herzen schlagen, in dieser imposanten Liebesbethätigung zeigt unsere Nation wieder einmal eine ebenso erhebende wie ergreifende Bethätigung des Dichterwortes: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern“. Das in immer stärker anschwellenden Gabenströmen sich bekundende Mitgefühl ist so einzig, daß es in Bezug auf die Macht des Eindrucks nur von der Größe der Heimsuchung übertroffen wird, die es lindern will.
So nothwendig aber im Hinblick hierauf die ausgiebigste Hülfe von außen ist, so dringend ist es geboten, bei der Anwendung und Vertheilung der Liebesgaben gewisse Charaktereigenthümlichkeiten und Eigenarten der armen, fast durchweg polnischen Bevölkerung Oberschlesiens auf dem Lande und in den kleinen Städten in Rechnung zu ziehen. Wenn sich in der Art und Lebensführung dieser Leute wesentliche Fehler offenbaren, so ist es unrecht und unklug zugleich, dieselben ihrer slavischen Nationalität in die Schuhe zu schieben, oder sie überhaupt ernstlich dafür verantwortlich zu machen. Zur Erklärung genügt es vollständig, daß sie Jahrhunderte hindurch als ausgebeutete und mißhandelte Leibeigene unter dem härtesten Drucke der Feudalherren und der Geistlichkeit gelebt. Wie es möglich war, daß ihr Culturzustand in der Reihe von Jahrzehnten seit ihrer Befreiung aus diesem Joche und dem Eintritt in den preußischen Staat sich nicht annähernd zu der Gesittungsstufe der deutschen Bevölkerungen aufgeschwungen hat, in deren Mitte sie leben, das werden spätere Verhandlungen und Untersuchungen darthun, zu welchen dieser so erschreckend an der Grenze des deutschen Reiches sich aufthuende Abgrund von Massenelend und Verkommenheit noch Anlaß geben muß. In diesem Augenblicke aber haben wir es mit dem oberschlesischen Landmann und Arbeiter zu thun, wie er nun einmal ist und voraussichtlich noch längere Zeit wird bleiben müssen. Verwöhnt war er niemals, und zu seinen Tugenden gehörte jederzeit eine außerordentliche Genügsamkeit, die auch ihre Schattenseiten hat. In Lagen wie jetzt begnügt er sich mit rohen Kartoffeln, schlimmsten Falls auch ohne Salz, und sucht sich durch Einhüllen in Lumpen nach Möglichkeit gegen die grimmige Kälte seiner entweder sehr spärlich oder gar nicht erwärmten Hütte zu schützen. Zu einem energischen Handeln aber, um eine Besserung seiner erbärmlichen Lage herbeizuführen, wird er sich nur selten aufraffen und meist fehlt ihm auch vollständig die Erkenntniß der Gefahr, in welcher er schwebt. Von seiner Kindheit ab an Entschlußlosigkeit und passive Ergebung gewöhnt, läßt er widerstandlos über sich ergehen, was kommen mag, und verfällt so allmählich in einen Geisteszustand, welcher dem wirklichen Stumpfsinn nicht unähnlich ist. Dabei ist der Oberschlesier im Allgemeinen und in rein mechanischen Thätigkeiten ein brauchbarer Arbeiter, aber auch das ist er nur, wenn er genügend angeleitet und beaufsichtigt wird.
Diese Gesichtspunkte müssen bei der Beurtheilung der traurigen Angelegenheit festgehalten werden, wenn die nothwendig gewordene Rettung durch Unterstützungen den Unglücklichen nicht moralisches Verderben bringen und ihre Unselbstständigkeit noch vermehren soll. Es kommt aber noch ein Anderes hinzu. Die Lage der Nothleidenden in den von der Calamität betroffenen Kreisen und Ortschaften ist in Bezug auf ihre Vermögensverhältnisse und ihre Arbeitsfähigkeit eine verschiedene. Wird da nicht eine möglichst genaue Sonderung vorgenommen, so kann es nicht ausbleiben, daß Vieles von den immerhin doch beschränkten Unterstützungsmitteln Solchen zufließt, die durch eigene Belastung oder Anstrengung sich noch selber helfen könnten, aber lieber aus dem Nothstande ihren Vortheil ziehen wollen. Bereits wurden Ortschaften namhaft gemacht, wo gutsituirte Leute sich an der Entnahme freier Kartoffeln betheiligt, ja dieselben sogar unter dem Preise wieder verkauft hatten, sodaß zuletzt Polizei und Gensd’armerie einschreiten mußten. Aus verschiedenen Orten führt der „Oberschlesische Anzeiger“ Beispiele an, daß Einwohner, die noch hinlänglich mit Bekleidung versehen sind, sich doch geweigert haben, ihnen angebotene Arbeiten zu übernehmen, „weil sie während des Nothstandes nicht arbeiten könnten“ oder „weil überall Gelder für sie gesammelt, Suppenanstalten errichtet würden und es Zeit wäre, daß für sie auch etwas geschähe“ etc. Das heimische Blatt bemerkt dazu: „Solchen Unverschämtheiten darf Niemand nachgeben, es kommt sonst eine nicht zu bändigende Corruption auf und wir können es noch erleben, daß der Arbeitsscheue droht: Fütterst du mich nicht auch, so bringe ich mit Hungertyphus die Pestilenz über’s Land! Hier eröffnet sich der Geistlichkeit ein Feld segensreicher Wirksamkeit. Möge sie allsonntäglich den Parochianen das ‚Bete und arbeite‘ vor die Seele führen!“[2]
Diese unwürdige Habsucht hat den Landrath Pohl in Ratibor vor Kurzem zu einer amtlichen Bekanntmachung veranlaßt, in welcher er die Ortsvorstände auf das Strengste anweist, die zur Linderung des Nothstandes überwiesenen Unterstützungen an Lebensmitteln, Kleidungsstücken und Heizungsmaterial in keinem Falle ohne Zuziehung der sämmtlichen Mitglieder des Localhülfscomités und nur an die Ortsarmen und diejenigen hülfsbedürftigen Personen zu vertheilen, die absolut nicht in der Lage sind, durch Arbeitsverdienst den nöthigen Lebensunterhalt sich zu erwerben; er macht die Gemeindevorstände für die gerechte Vertheilung der Unterstützungen und für die gewissenhafte Berichterstattung in allen Nothstands-Angelegenheiten verantwortlich.
Das sind Eindrücke niederschlagendster Art, und sie werden noch verstärkt durch widerwärtige Erscheinungen in anderen oberschlesischen Kreisen, die thatsächlich von einem wirklichen Nothstande gar nicht betroffen sind und wo die Noth nicht größer ist, als in den meisten anderen Gegenden unseres Vaterlandes, welche dennoch von Ortschaften solcher Bezirke um Hülfe angerufen werden. „Wo so viel gegeben wird, kann für unsere Gegend auch etwas abfallen“ – das ist der Grundsatz, den man häufig vernehmen kann, und flugs ist auch ein Zeitungsschreiber da, der von nackten frierenden Kindern, von trockenen und verfaulten Kartoffeln als Nahrungsmittel und von anderen schaudererregenden Details berichtet. Nicht als ob derartige Geschichten durchweg erfunden wären, sie können immerhin ganz wahr sein, gehören aber an dem betreffenden Platze doch nur zu den Ausnahmen und man braucht, um sich von dem Vorhandensein solcher vereinzelter Fälle zu überzeugen, sicher nicht nach Oberschlesien zu gehen; sie kommen anderswo auch vor. Es wäre eine Ungerechtigkeit gegen die jetzt weit und breit in Deutschland und namentlich überall in den großen Städten und in verschiedenen Gebirgsgegenden offen und heimlich grassirende Noth von Tausenden, wenn ihr auch nur ein Theil der nöthigen heimischen Fürsorge entzogen würde, um dieselbe denjenigen oberschlesischen Bezirken zuzuwenden, in denen eine wirkliche Massencalamität nicht zu finden ist.
Einen Zustand äußerster Bedrängniß weisen in Oberschlesien, allen angestellten Ermittlungen zufolge, in der That nur die im Süden desselben belegenen Kreise Ratibor, Cosel, Rybnik und Pleß [50] auf, und es ist dazu auch noch die südöstliche Hälfte des Kreises Lublinitz zu rechnen. Das Nothstandsgebiet umfaßt somit eine Einwohnerzahl von 400,000 Seelen, von denen, hoch gegriffen, zwanzig Procent unterstützungsbedürftig und höchstens zehn Procent in einem außerordentlichen Nothstande begriffen sind. Die betreffenden Kreise können bei ihrer ohnedies schon sehr gedrückten finanziellen Lage notorisch für ihre Eingesessenen nicht eintreten. Man darf aber hoffen, daß die von anderen Kreisen und der Provinz flüssig gemachten Mittel in Verbindung mit den Beträgen der Privatsammlungen den in den obigen Grenzen wirklich vorhandenen Nothstand in erheblicher Weise mildern werden.
Schon beim Herannahen der Calamität hatte der Provinziallandtag von Schlesien 888,000 Mark bewilligt, und weitere 2 Millionen bereit gestellt, von denen 1.500,000 Mark zu Darlehen an die Bewohner der Nothstandsbezirke unter Bewilligung günstiger Verzinsungs- und Rückzahlungsbedingungen, nöthigenfalls auch 10 Procent mit Risico des Verlustes, ausgegeben, 500,000 Mark dagegen zu Wegebauten verwendet werden sollen. Ebenso wetteifern die einzelnen Kreise mit einander, um ihrerseits durch Wege- und Straßenbauten den Bedrängten im Lande Arbeit zu schaffen.
Ferner hat bekanntlich auch Kaiser Wilhelm dem schlesischen Provinziallandtage die Mittheilung zugehen lassen daß ein Capital von 400,000 Mark, welches die Provinz dem kaiserlichem Paar bei Gelegenheit der goldenen Hochzeit zur Begründung einer Stiftung dargebracht, nunmehr gleichfalls zur Beseitigung des Nothstandes verwendet werden möge. Es ist daher die Summe dem Landarmenverbande für Unterstützung Hülfsbedürftiger über die gesetzliche Verpflichtung hinaus zu unbeschränkter Verfügung überwiesen worden. Was die Sammlungen und sonstigen Leistungen aus dem Publicum betrifft, so läßt sich der bisher erreichte Betrag noch nicht übersehen. Allein das in Berlin erst vor Kurzem begründete Hülfscomité quittirt an dem Tage, wo dies geschrieben wird, über eine bis jetzt eingegangene Summe von 164,000 Mark, von denen bereits 50,000 Mark nach Oberschlesien abgegangen sind. Die verschiedenen Sammlungen sind aber noch in vollem Flusse.
An Mitteln, um für den Augenblick dem Allerschlimmsten abzuhelfen, dem Allerdringendsten zu genügen und mannigfach lindernd den Gefahren vorzubeugen, fehlt es also nicht. Damit ist schon viel gethan und ein hochwichtiger Theil des Barmherzigkeitswerks in Angriff genommen. Für die erforderliche Nachhaltigkeit freilich reichen die Ergebnisse der bis jetzt gemachten Anstrengungen nicht hin. Um das zu begreifen, braucht sich der Entfernte ein nur annähernd deutliches Bild von der Gewalt und Ausdehnung des Schreckens zu machen, der unter den Mittellosen des eigentlichen Nothstandsbezirks in der Gestalt des Hungers, des Frostes, des Mangels aller nothwendigsten Existenzbedingungen und der daraus folgenden Erkrankungen sein grausig-heimtückisches Regiment entfaltet hat. Hier strecken in den verschiedenen Ortschaften Hunderte, in weiteren Umkreisen Tausende von Hungernden und Halbverhungerten, Alte und Junge, Männer und Frauen in verzweiflungsvoller Gier ihre Hände nach ein wenig Nahrung aus; hier seufzen und winden sich auf erbarmenswürdigem Lager unzählige Schwache, Sieche und Kranke jedes Lebensalters ohne Pflege, ohne Ernährung und Wärme; bei Tausenden ist kein Vorrath im Hause, kein Feuer im Ofen überall Schmutz, Lumpen, bleicher und hohläugiger Jammer, vielfach in den langen Winterabenden nicht einmal der Strahl eines Lämpchens zur Erhellung der trostlos düsteren Behausung. Und all diesem zu äußerster Höhe gesteigerten Elend stehen die Armenverwaltungen des Ortes und der Kreise ziemlich machtlos gegenüber.
„In zwei großen Dörfern des Oppathales, die ich gestern besuchte,“ so bemerkt der Geheime Sanitätsrath Dr. Heer aus Ratibor in einem Briefe vom 23. December 1879, „sind 700 Personen ohne alle Nahrungsvorräthe; sie werden durch fremde Hülfe bis zum Beginn der Arbeitszeit erhalten werden müssen. Ich habe die Kinder in den Schulen gesehen und unter ihnen eine große Menge abgemagerter, blutarmer Gestalten gefunden, die Mittags das Schullocal nicht verlassen wollten, weil sie zu Hause kein warmes Zimmer und kein Essen finden. Und was ist die Nahrung der Bessersituirten? Zwei Mahlzeiten von schlecht gerathenem Buchweizen, der, auf Handmühlen zerkleinert, mehr als zur Hälfte des Gewichts feste schwarze Hülsen giebt. Davon werden Klumpen ohne jede Fettung in Salzwasser gekocht. Leider ist diese Kost ein Luxus gegen die zahlreichen ekelerregenden Gerichte, welche aus den zur Zuckerfabrikation nicht geeigneten, mißrathenen Rüben bereitet werden und sehr vielen Familien zur ausschließlichen Nahrung dienen. Ich habe gesehen, daß eine Hausfrau fünf Kindern diese Kost dadurch schmackhaft und annehmbar zu machen versuchte, daß sie die gesottenen Rübenstücke mit geriebenem altem Käse der widerlichsten Art servirte. Inzwischen greifen die durch ungenügende und ungeeignete Nahrung bedingten Darm- und Magenkatarrhe in bedenklicher Weise um sich und bereiten dem Typhus einen fruchtbaren Boden. Seit mehreren Tagen sind an vielen Orten Volksküchen und Suppenanstalten im Gange, um aber allen Bedürfnissen zu genügen, dazu gehört noch unendlich viel. Gegenwärtig ist’s noch nicht gelungen, mehr als die völlig Hülflosen zu ernähren.“
Je weniger also ohne die von draußen eingehenden Unterstützungen an eine Bekämpfung dieses äußersten Grades menschlichen Elends zu denken wäre, um so mehr liegt die bereits hervorgehobene Hauptschwierigkeit dabei in einer den Verhältnissen entsprechenden Vertheilung. Nicht blos die Ueberwachung der zahlreichen, noch gesondert wirkenden localen Hülfscomités, sondern auch eine Centralisation derselben, eine einheitliche Leitung des gesammten Hülfswerks von einem mit Autorität versehenen Mittelpunkte aus ist dringend geboten. Vielleicht ist es das Naturgemäßeste, diese Centralleitung dem ohnedies über fast alle Städte sich verzweigenden „Vaterländischen Frauenverein“ zu übertragen, der bereits in den Nothstandsbezirken eine außerordentlich segensreiche Wirksamkeit entfaltet hat.
In Betreff der als nothwendig sich herausstellenden Organisation ist ja an den einzelnen Punkten schon Manches geschehen, aber die Städte sind in der Planmäßigkeit ihrer Maßnahmen dem platten Lande weit vorausgeeilt. In den Städten wirken schon wohlorganisirte Hülfscomités, die zumeist mit dem „Vaterländischen Frauenverein“ in Verbindung stehen; Niederlagen von Lebensmitteln, Suppenanstalten sind gegründet, in denen ganze Portionen gewöhnlich für zehn, halbe für fünf Pfennig, an ganz Arme jedoch auch auf Anweisung des betreffenden Hülfscomités unentgeltlich verabreicht werden. Die Einrichtung dieser Volksküchen erweist sich als sehr praktisch; zur Verwendung gelangen dabei Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Reis und Graupen, und die Zubereitung ist eine durchaus schmackhafte, wie in jeder guten bürgerlichen Haushaltung. Auch die Krankenanstalten sind in den Städten im Allgemeinen gut; einzelne lassen freilich stark zu wünschen übrig und dürften bei einem weiteren Umsichgreifen des Hungertyphus sich als vollständig unzulänglich herausstellen. So schildert der Regierungs- und Medicinalrath Dr. Pistor in Oppeln in seinem Generalbericht über das Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Oppeln (Breslau, Clar’sche Buchh.) das Krankenhaus zu Sohrau in Oberschlesien in nachstehender Weise:
„In Sohrau befanden sich im November 1879 in einem Raume Kranke beiderlei Geschlechts, um für den zweiten noch vorhandenen Raum die Heizung zu ersparen. Auf den Dielen lagerte der Schmutz fünf Centimeter hoch. Bettwäsche fehlte oder war so schmutzig, daß die Grundfarbe des Stoffes kaum noch zu erkennen war. Kurz, die Verwahrlosung war so groß wie möglich. Auf dem Hofe befand sich eine Latrine der primitivsten Art über einer offenen Düngergrube. Und doch zählt Sohrau über viertausend Einwohner und ist nicht unbemittelt.“
Aus Berichten der „Schlesischen Zeitung“ erhellt, daß dieser jämmerliche Zustand des Krankenhauses in der Mitte des December noch nicht verbessert war; ein neues Krankenhaus ist zwar jetzt vorhanden, wird aber aus Sparsamkeitsrücksichten nicht belegt. Es möge das als ein Beispiel der Zustände in manchen dieser oberschlesischen Gemeinden hier angeführt sein. Der inzwischen ausgebrochen Hungertyphus wird hoffentlich auch nach dieser Richtung die betheiligten Behörden zu einem beschleunigten Tempo aufmuntern.
Auf dem Lande sind zwar durch Veranlassung des „Vaterländischen Frauenvereins“ vielfach in den größeren und theilweise auch in den kleineren, besonders hart von der Noth bedrängten Dörfern gleichfalls Suppenanstalten errichtet; im Allgemeinen jedoch ist die Organisation der Hülfscomités dort bis heute noch [51] in der ersten Entwickelung begriffen, wird selbstverständlich auch viel schwieriger sein, als in den Städten, da sich nicht in jeder Ortschaft die erforderliche Anzahl zuverlässiger und zur Leitung geeigneter Persönlichkeiten finden mag. Der Bedarf an Kartoffeln dürfte inzwischen in den meisten Ortschaften beschafft sein. Das Quantum ist durch Vertrauensmänner festgestellt worden und wird den einzelnen Gemeinden gegen solidarische Schuldverbindlichkeit der Gemeindemitglieder mit zwei Mark fünfzig Pfennig bis drei Mark pro Centner geliefert.
Was nun die traurigste Hauptsache des ganzen Unglücks, den Ausbruch des Typhus betrifft, so kann leider die weithin erregte Furcht vor diesem grauenhaften Schreckbilde nicht als eine unbegründete bezeichnet werden. Nach den Mittheilungen des oben bereits genannten Dr. Heer in Ratibor vom 23. December war der Typhus bis zu diesem Tage nicht blos in dem Dorfe Solarnia, sondern auch in Ratibor selbst und in den Dörfern Olsau, Bluschczau, Plania, Marquartowitz, Kamin, Brzeznitz, Raschütz, Bobrownik, Woinowitz und Nendza constatirt. Der Arzt bemerkt hierbei: „Wenngleich in mehreren Orten erst einzelne Fälle aufgetreten sind, so muß doch die Gleichzeitigkeit ihrer Erscheinung als der Ausdruck einer allgemeinen Ursache erachtet werden, und über die Natur dieser Ursache besteht kein Zweifel mehr.“ Die furchtbare Ansteckungsfähigkeit und verheerende Gewalt dieser schrecklichen Krankheit ist zu bekannt, als daß davon noch besonders gesprochen werden müßte. Einigermaßen beruhigend können in dieser Hinsicht die Maßnahmen wirken, welche von den Behörden unter persönlicher Leitung des Oberpräsidenten an Ort und Stelle angeordnet und ausgeführt worden sind; dieselben lassen zuversichtlich hoffen, daß die Krankheit auf ihren Herd beschränkt und ein epidemisches Ueberhandnehmen derselben verhindert werden kann. Dringend nöthig in dieser Beziehung ist die strengste Controlle, namentlich der ländlichen Gemeindebehörden, da es vorgekommen ist, daß in einer Ortschaft des Kreises Gleiwitz mehrere Wochen hindurch ein ansteckende Krankheit herrschte, ohne daß auch nur der Kreisverwaltungs- oder der Kreismedicinalbehörde irgend eine Anzeige davon erstattet wurde. Hier liegt eine ganz ungeheuere Verantwortung, denn durch die so reich gespendete Hülfe haben die außerhalb Oberschlesiens wohnenden Bevölkerungen sich ein doppeltes Recht erworben, gegen die Einschleppung der Hungerpest aus dem bedrängten Lande sich in durchgreifendster Weise geschützt zu sehen.
Dieses gleichgültige Verschweigen der Gefahr ist für den Oberschlesier, wie er jetzt ist, ebenso charakteristisch, wie die häßlichen Züge, welcher ich zu Eingang dieses Berichtes Erwähnung that. Aus allem, was ich als Bewohner der Provinz längst weiß und jetzt auf's Neue wiederum gesehen und gehört habe, geht eben mit Sicherheit hervor, daß man es in Oberschlesien mit einem doppelt bedrohlichen und verhängnißschweren Nothstande zu thun hat, mit einem leiblichen und einem geistig-sittlichen. Der erstere wird durch die starke Mithülfe des opferwilligen Erbarmens hoffentlich bald abgewendet werden, der geistige und sittliche Nothstand aber wird den Hunger sammt seinem schauerlichen Gefolge auch dieses Mal überleben, und es wird sich aus dieser Seite des Unglücks, falls ihre allmähliche Besiegung nicht gelingt, das gegenwärtige Elend unter geeigneten Umständen immer von Neuem erzeugen müssen.
- ↑ Wir geben diese Beobachtungen und Bemerkungen eines schlesischen Augenzeugen, ohne damit die Erörterung der furchtbaren Calamität irgend für erschöpft und das Urtheil darüber für abgeschlossen zu halten. Die bis jetzt veröffentlichten Berichte widersprechen noch mannigfach einander in Betreff der thatsächlichen Angaben. Der preußische Finanzminister hat in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 19. December vier Kreise: Ratibor, Kosel, Rybnik und Pleß als die einzigen bezeichnet, in denen ein wirklich allgemeiner Nothstand herrsche, wogegen er in den Kreisen Lublinitz und Gleiwitz nur ein vereinzelter sei. Die obigen Mittheilungen unseres Berichterstatters schildern aber gerade das Elend des Lublinitzer Bezirks als ein großes und bedrohliches und auch anderweitige Privatberichte neuesten Datums bestätigen dies, indem sie zugleich auf die „Schönfärberei“ der officiösen Blätter hinweisen, namentlich den Gesundheitszustand der Bevölkerung für besser auszugeben, als er sei. Andererseits lauten wieder in Betreff der Hüttendistricte manche Nachrichten weit weniger beruhigend und hoffnungsvoll, als die vorstehenden Angaben.
D. Red.
- ↑ Soweit wir die Verhältnisse aus öffentlichen und privaten Mittheilungen kennen, haben aber viele Geistliche aller dieser polnisch-deutschen Districte ihren vorwiegenden Einfluß auf das in Unwissenheit und Aberglauben erhaltene Volk bisher für ganz andere Zwecke verwendet. Die Landgeistlichen waren eifervolle Arbeiter und mächtige Werkzeuge auf dem Gebiete der hohen Politik. Statt der so nothwendigen geistigen und sittlichen Hebung dieses Volkes, die hier recht eigentlich ihre Aufgabe gewesen wäre, liefen sie vor Allem die Schürung und Schärfung des leidigen Rassezwiespalts und Confessionszelotismus, den Kampf gegen die Staatsgesetze und die Beeinflussung der Wahlen im römisch-hierarchischen Interesse sich angelegen sein. Sollte es einem Zweifel unterliegen, daß auch in diesem traurigen Umstande und in dem Mangel einer angemessenen, durchgreifend organisirten Gegenwirkung eine der Hauptursachen der entsetzlichen Herabgekommenheit zu suchen ist?D. Red.