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Wie ich den Schimmel von Bronnzell kennen lernte

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Textdaten
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Autor: Fedor von Köppen
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Titel: Wie ich den Schimmel von Bronnzell kennen lernte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 31–34
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[31]
Wie ich den Schimmel von Bronnzell kennen lernte.
Von Fedor von Köppen.


Zwei und ein halbes Jahr trug ich die Epauletten, ohne den Dienst in einer Friedensgarnison aus Erfahrung zu kennen. Die meisten Regimenter, welche der Sturm des Jahres 1848 aus ihren Friedensgarnisonen aufgestört hatte, waren zu ihrem Alltagsdienstleben zurückgekehrt, wir aber standen noch auf dem Kriegsfuße in dem friedlichsten aller deutschen Länder, in Mecklenburg, wo wir gewissermaßen eine beobachtende Stellung einnahmen zu dem Kampfe, der zwischen Schleswig-Holsteinern und Dänen soeben von Neuem ausgebrochen war. Trotz unseres mobilen Zustandes hatten sich indessen auch bei uns die alten Friedensgewohnheiten wieder eingeschlichen. In unseren Cantonnementsstädten wurde exercirt, Parademarsch geübt und Instructionsstunde gehalten wie im Frieden. Der Packgaul, welcher eigentlich die Bestimmung hatte, der marschirenden Compagnie die nöthigsten Effecten – die Bücher des Feldwebels, das Handwerkszeug für die Flickarbeiter der Compagnie, einige Krankendecken für Mannschaften, die Mäntel und die Feldmenage der Officiere – auf seinem Rücken nachzutragen, hatte jetzt den edleren, wenn auch nicht ganz reglementsmäßigen Beruf erhalten, den Officieren als Reitpferd zu dienen, und da ich längere Zeit hindurch der einzige Officier der Compagnie war, so benutzte ich diese Gelegenheit zu Ausritten in die Nachbarschaft und zu Besuchen bei den gastfreien Gutsherren der Umgegend, besonders da, wo liebenswürdige Töchter die Reize des Hauses erhöhten. Es war wieder Herbst geworden; ein Heimwehzug ging durch die ganze Natur, und auch in unseren Herzen regte sich neben den kriegerischen Gelüsten das leise Sehnen nach der lieben Heimath, von der wir nun schon so lange entfernt waren.

Als ich an einem der letzten Octobertage 1850 von einem Spazierritte auf dem Packgaul in unser stilles Cantonnementsstädtchen Rehna zurückkehrte, fand ich dieses in einer ungewöhnlichen Aufregung. Die Straßen waren belebter als sonst, die Quartiere des Feldwebels und des Capitaine d’armes von Soldaten umlagert. Der Bursche kam mir im Eilschritt entgegen mit der Meldung: „Herr Lieutenant, in einer Stunde wird ausmarschirt; ich habe unsere Sachen bereits gepackt.“

Näheres war nicht zu erfahren; denn auch die Marschordre nannte nur das nächste Ziel des Marsches, nämlich die Eisenbahnstation Hagenow. Auch wurden wir darauf hingewiesen, uns mit Mundbedarf für eine längere Eisenbahnfahrt zu versehen.

Wir hatten beinahe sieben Meilen bis Hagenow zu marschiren. Der Mond ging auf, als wir abzogen, und der Tag brach an, als wir in Hagenow ankamen und die auf dem dortigen Bahnhofe bereit stehenden Wagen eines Extrazuges bestiegen. Bei dem raschen Wechsel unserer Umgebungen wußten wohl die wenigsten von unseren Mannschaften, wo sie waren, als wir in der Abendstunde auf dem Hamburger Bahnhof in Berlin einfuhren und uns beim Schein der Gaslaternen in Reih und Glied zum Einmarsch rangirten.

Unserer Compagnie ward die Ehre zu Theil, bei dem Chef unseres Regiments, dem Prinzen von Preußen, die Fahne abzubringen. Als wir vor dem Palais aufmarschirt standen, trat der Prinz heraus und ging die Front der Compagnie herunter, jeden Mann scharf musternd, als wollte er ihm ansehen, wie ihm die sieben Meilen Marsch und die Eisenbahnfahrt bekommen wären. Nachträglich erfuhren wir, daß der Prinz der „Siebenmeilen-Compagnie“ ein ansehnliches Geschenk aus seiner Schatulle gewährt hatte.

In der Frühe des andern Morgens standen wir wieder auf dem Anhalter Bahnhofe zur Weiterfahrt bereit. „Nach Thüringen“, sagte man, ginge die Fahrt, was aber der Grund zu dieser mit so auffallender Hast betriebenen Reise war, darüber zerbrachen wir uns vergeblich die Köpfe. Wir hatten zwar auch in Mecklenburg Zeitungen zu Gesicht bekommen und von der zwischen Preußen und Oesterreich herrschenden Spannung gelesen, aber wir betrachteten den Notenwechsel zwischen der preußischen und österreichischen Regierung oder vielmehr zwischen den Ministerien Brandenburg-Manteuffel und Fürst Schwarzenberg für nichts Anderes, als für einen gegenseitigen Austausch von Höflichkeiten in der damaligen Sprache der Diplomatie.

Ein ganz anderes Gewicht hatte für uns die Ansprache, welche der Prinz von Preußen auf dem Bahnhofe beim Abschied an die Officiere richtete. „Es gilt zwar einen Kampf gegen deutsche Brüder,“ sagte er unter Anderem, „aber das ist gleich, wo es die Ehre Preußens gilt.“

Also doch einen Kampf gegen deutsche Brüder! – Es war die Zeit des hessischen Verfassungsstreites, welchen der große Staatsmann unserer Zeit als einen „Sturm auf dem Glase Wasser“ bezeichnete. Der Kurfürst hatte sich und seinen Minister Hassenpflug unter den Schutz Oesterreichs und der diesem befreundeten Staaten – Baiern, Württemberg etc. – gestellt. Preußen aber, das noch immer an der Chimäre der „Union“ einer Anzahl deutscher Staaten unter seiner Führung festhielt, wollte eine Intervention Oesterreichs in Kurhessen nicht dulden und nahm die verfassungstreue Bevölkerung unter seinen Schutz. Während der Einmarsch eines österreichisch-baierischen Corps in Kurhessen von Süden her täglich erwartet wurde, zog Preußen ein Corps in den thüringischen Ländern zusammen, um jenem den Weg nach Kassel zu verlegen. So belebend nun auch die Worte des Prinzen, welche auf einen nahe bevorstehenden Krieg hindeuteten, auf uns wirkten, so schien uns doch mancher Widerspruch damit nicht gelöst. Es däuchte uns wunderbar, daß Preußen, welches die Kaiserkrone soeben verschmäht hatte, um einen Conflict mit Oesterreich und den mit ihm verbündeten deutschen Regierungen zu vermeiden, jetzt um der Union willen zum Schutze der hessischen Verfassung das Schwert ziehen sollte. Und wenn wirklich ein ernster Krieg bevorstand, warum zögerte der König, an den Heerschild zu schlagen und die gesammte preußische Armee unter die Waffen zu rufen, wie dies sonst in Preußen Brauch und Sitte war? so fragten wir. Glücklicher Weise hatten wir uns über das Warum nicht die Köpfe zu zerbrechen, sondern uns nur an die Thatsachen zu halten und auszuführen, was befohlen ward. Thatsache aber war, daß wir mittelst Extrazuges über Erfurt nach Eisenach fuhren und von dort sogleich den Fußmarsch, an der beschneiten, alten Lutherwarte vorüber, nach den thüringischen Walddörfern an der hessischen Grenze antraten. Hier sollten wir einstweilen Cantonnements beziehen und uns bereit halten, auf die Nachricht von dem erfolgten Einmarsche der Oesterreicher sofort von der andern Seite gleichfalls in Hessen einzurücken. Auf den Vorhöhen des Rhöngebirgs waren Fanale aufgepflanzt, die uns durch ihr Leuchten bei Nachtzeit oder durch ihren Qualm bei Tage sogleich in Kenntniß setzen sollten, wenn die Oesterreicher und Baiern die Grenze überschritten.

Ich hatte nur wenige Tage in dem Schulhause eines thüringischen Dorfes, das bei seiner Abgelegenheit von der großen Straße wohl weder von Geschäftsreisenden noch von Touristen jemals besucht wird, zugebracht; da sah ich eines Nachts einen hellen [32] Schein von außen her in mein Zimmer fallen. Zum Fenster hinausschauend, sah ich die sämmtlichen Fanale in den Vorhöhen des Rhöngebirgs brennen. Bald darauf hörte ich auch in den entfernteren Dörfern den Generalmarsch schlagen und blasen, der immer näher und lauter, und jetzt unmittelbar vor meinen Fenstern ertönte. Meine Toilette war schnell gemacht, und bald befand ich mich wieder mit dem Bataillon auf dem Marsche.

Das erwartete Ereigniß, der Einmarsch der Österreicher in Hessen, war erfolgt, und wir beeilten uns, soviel Terrain wie möglich zu besetzen, ehe Jene uns zuvorkamen. Am zweiten Tage erreichten wir Fulda, von wo die Österreicher nur noch wenige Stunden entfernt stehen sollten. Die vier mit Zündnadelgewehren bewaffneten Füsilierbataillone des bei Fulda jetzt versammelten preußischen Corps wurden hier zu einer Füsilierbrigade vereinigt, von welcher zwei Bataillone sogleich südlich von Fulda Vorposten gegen die Oesterreicher aussetzten, während die beiden anderen, zu denen das unserige gehörte, als Replis der Vorposten bei den Gärten der südlichen Vorstadt Bivouacs bezogen. Am folgenden Tage sollten wir die Truppen auf Vorposten ablösen und die beiden abgelösten Bataillone unsere Replis bilden; in dieser Weise sollte bis auf Weiteres im Vorpostendienste gewechselt werden, sodaß wir eine Nacht um die andere auf Vorposten kamen.


Ein „Tischlein deck' dich!“
Originalzeichnung von H. Lüders.


Auf einer Terrainerhebung inmitten unserer Bivouacs ragte ein Klostergebäude mit hohen Mauern welches meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Vor den Mauern des Klosterhofes, nahe dem Eingange, hatten unsere Burschen einige Schütten Stroh und ein paar Holzkloben, die Lieferung für die Officiere, abgeladen. Ermüdet, wie ich war, ließ ich mich sogleich auf eine Strohschütte nieder und sank trotz meiner unbequemen Stellung, den Rücken gegen die Mauer gelehnt, die Pickelhaube auf dem Kopfe, alsbald in jenen Zustand, in welchem die Bilder der umgebenden Wirklichkeit mit denen der Gauklerin Phantasie zusammenfließen. Da weckte mich eine weiche, wohlklingende Stimme, und als ich die Augen aufschlug, sah ich in ein jugendlich blühendes Mädchenantlitz, das freilich zum Theil von einer überhängenden dunklen Haube beschattet war.

„Will der Herr vielleicht eine Stärkung nehmen?“ fragte die Nonne, denn als eine solche war sie nach den verhüllenden dunklen Gewändern zu erkennen. Dabei wies sie auf einen mit Speisen besetzten kleinen Tisch, der während meines Schlafes hier aufgebaut worden. Ich erhob mich, um einige Worte des Dankes zu stammeln, aber ich glaubte, mit einer solchen Himmelsbraut eine ganz andere Sprache reden zu sollen, als ich es mit den Kindern dieser Welt gewohnt war, und ehe ich noch den rechten Ton gefunden, war sie schon durch die Klosterthür wieder verschwunden. Ich stand noch immer sprachlos, die Augen auf die sich schließende Pforte gerichtet, als mein Capitain auf mich zuschritt und, da er den gedeckten Tisch vor mir sah, ohne Weiteres Platz an demselben nahm, worauf er, ohne einen Zweifel darein zu setzen, daß auch ihm ein cameradschaftlicher Antheil an der Mahlzeit gebühre, sein Feldbesteck herausnahm und zulangte. Ich aber begriff, daß es für mich Zeit war, das Gleiche zu thun, wollte ich nicht die herrlichen Speisen ebenso schnell wieder verschwinden sehen, wie sie unerwartet gekommen waren.

„Da ist ja auch gar Wein,“ sagte der Capitain, indem er mit Wohlgefallen den Inhalt einer Flasche betrachtete, an die er soeben unter dem Tische zufällig mit dem Fuße gestoßen hatte. Er entkorkte dieselbe und füllte unsere Feldbecher: „Es lebe unsere unbekannte Frau Wirthin!“

„Oder Jungfer Wirthin,“ verbesserte ich. „Wie sie nur heißen mag?“

In diesem Augenblicke hörte ich hinter der Klosterthür eine Stimme rufen: „Charitas, Schwester Charitas!“ wie zur Antwort auf meine obige Frage.

„Also Schwester Charitas soll leben!“ rief ich, mit meinem Capitain anstoßend.

Wein und Speisen nahmen ein schnelles Ende. Unterdessen hatten die Burschen das Nachtlager für uns an der Klostermauer eingerichtet. Ich legte mich so, daß ich die Pforte im Auge behielt, denn ich hoffte noch immer, daß Schwester Charitas zurückkehren würde, und noch im Traum war es mir, als hörte ich das Pförtchen gehen. Als ich erwachte, war das Tischlein mit Allem, was darauf stand, verschwunden.

Trotz der Eile, mit der wir hierher gerufen worden waren, schienen doch alle unsere Instructionen weniger den Kriegsfall, als die Vermeidung desselben im Auge zu haben. Es war zwar gesagt, daß wir ein Vordringen der Oesterreicher und Baiern in das von unseren Vorposten besetzte Terrain nicht zu dulden hätten, aber es war uns daneben verboten, zu feuern. Nur wenn Oesterreicher und Baiern zuerst schießen sollten, durften wir das Feuer erwidern. So standen wir denn mit dem sogenannten „Feinde“ auf einem ganz leidlichen Fuße; ja, es bildete sich sogar eine Art von gemüthlichem Verkehr unter uns, welcher durch die täglich zweimal auf der Straße von Fulda nach Hanau unsere beiderseitigen Vorpostenlinien passirende Post vermittelt ward. Einmal schickten uns die Baiern einen mächtigen Pfefferkuchenmann zu, einen Preußen mit der Pickelhaube, wofür wir uns durch Sendung eines Fäßchens Bier revanchirten. Alle Morgen aber rückten die Baiern und Oesterreicher, welche unsere Instruction, nicht zu schießen, wohl kennen mochten, unter lustiger Musik bis dicht an unsere Vorpostenlinie heran. Wenn dann bei uns Alles alarmirt war und die Gefechtstellungen eingenommen hatte, kehrten [33] sie um und marschirten unter Musik friedlich wieder zurück. Diese Spielerei wiederholte sich täglich. Nebenbei wurde aber die politische Lage immer ernster. Aus Berlin kam die Nachricht von dem Tode des Grafen Brandenburg, dem der Schmerz über das Auftreten des Kaisers von Rußland als Schiedsrichter in der schwebenden Frage schwer zu Herzen gegangen war. Bald darauf erschien die Mobilmachungsordre für die gesammte preußische Armee, Linie und Landwehr. Damit schien die Kriegsfrage für uns entschieden. Die Morgenbesuche der Baiern bei unseren Vorposten sollten nun ihr Ende erreichen. Unser Obercommandirender, der General der Cavallerie Graf von der Groeben, ließ dem baierischen Befehlshaber, Fürsten von Thurn und Taxis, eine Art von Ultimatum überreichen, in welchem er diesem ankündigte, daß er künftig das Ueberschreiten einer gewissen Schlucht, die sich vor unseren Vorposten hinzog, und der Brücke, auf welcher die Chaussee nahe dem Dorfe Bronnzell über dieselbe führte, als eine Herausforderung ansehen würde, auf die er mit Eröffnung des Feuers antworten müsse. Das war ein anderer Stil, als der bisher gewohnte. Am Abend ließen uns die Baiern mit der von Hanau kommenden Post sagen, sie würden den andern Morgen in Fulda Kaffee kochen, worauf wir mit umgehender Post antworteten, wir würden ihnen die Bohnen dazu liefern.


Der Schimmel von Bronnzell.
Originalzeichnung von H. Lüders.


In der Nacht (vom 7. zum 8. November) bezog ich mit der Compagnie wieder einmal das bewußte Bivouac in der Nähe des Klosters, im Repli der Vorposten. Mein Capitain hatte diesmal wegen eines dienstlichen Auftrages, der ihn in Fulda zurückhielt, die Führung der Compagnie mir übergeben. Es war ein trüber Abend mit Regen und Novemberschauern. Ich ließ mir mein Lager möglichst genau an derselben Stelle einrichten, wo ich das erste Mal in der Nacht unserer Ankunft campirt hatte, und war im Begriffe, mich auf das nasse Stroh zur Ruhe zu strecken, als eine Ordonnanz mir vom Vorposten-Commandeur den Befehl brachte, im Falle es stärker regnen sollte, mit den Mannschaften im Kloster selbst Quartier zu nehmen.

Obgleich der Regen im Augenblicke unbedeutend war, hielt ich es doch für meine Pflicht, die Oberin des Klosters auf die Möglichkeit der Einquartierung vorzubereiten. Ich klingelte an der geheimnißvollen Pforte, ließ mich durch die mir öffnende Alte bei der Oberin anmelden und wurde in ein Sprechzimmer geführt, in welches die Oberin bald nach mir eintrat. Sie war durch die Mittheilung meines Auftrages keineswegs überrascht und zeigte mir die Räumlichkeiten zu unserer Unterbringung, nämlich einen bedeckten Schuppen, auf dessen Boden eine reinliche Streu mit Decken ausgebreitet werden sollte für die Mannschaften, und ein Zimmer im Hauptgebäude mit bequemem, breitem Sopha zur Lagerstätte für mich.

Da ich mich mit diesen Einrichtungen vollkommen einverstanden erklärte, forderte sie mich auf, die Räumlichkeiten sogleich zu beziehen, und da es gerade in diesem Augenblicke etwas heftiger zu regnen begann, so zögerte ich nicht, von der Einladung Gebrauch zu machen. Ich führte meine Mannschaften in den ihnen zugewiesenen Schuppen, nicht ohne ihnen vorher noch einmal die strengste Mannszucht anempfohlen zu haben, und nachdem ich mich überzeugt, daß hier Alles in guter Ordnung zuging, begab ich mich auf mein Zimmer und streckte mich mit geschlossenen Augen behaglich auf dem breiten, weichen Sopha, weniger um zu schlafen, als um zu probiren, wie sich's hier schlafen würde. Da hörte ich Geräusch, die Zimmerthür ward geöffnet, und leise Tritte näherten sich meinem Lager. Ich hütete mich wohl, die Augen zu öffnen, um nicht die lieblichen Bilder, welche die Einbildung mir vorgaukelte, durch die Eindrücke der Wirklichkeit wieder verlieren zu müssen, und ließ es mir wohl gefallen, wie der Kopf mir von weichen Armen gehoben und gestützt und ein Kissen nach dem anderen untergelegt ward, während andere Hände damit beschäftigt waren, eine Decke über mich auszubreiten. Dann glaubte ich zu hören, wie die Tritte sich allmählich wieder entfernten, wie die Thür noch einmal geöffnet ward und sich wieder schloß. Jetzt glaubte ich, die Augen öffnen zu dürfen, aber wie erstaunte ich, als ich sie aufschlug und die holde Bekannte von jenem Abend meiner Ankunft vor mir stehen sah – es war nicht Traumbild, sondern Wirklichkeit; es war Charitas mit den sanften, lieblichen Gesichtszügen, und mit derselben weichen Stimme wie damals fragte sie: „Ist dem Herrn vielleicht eine Stärkung gefällig?“

Auf dem Tische stand eine Tasse Thee, daneben lag ein aufgeschlagenes Gebetbuch. Ich schob das Brevier etwas bei Seite und rückte den Thee näher.

„Warum thun Sie das?“ fragte sie mit Bezug auf die erstere Bewegung.

„Ich bin andern Glaubens als Sie,“ antwortete ich etwas verlegen.

„Sie sind ein Irrgläubiger, ein Preuße,“ sagte sie mit einem Tone, der mehr mitleidig als vorwurfsvoll klang.

Ich leugnete nicht, konnte jedoch nicht unterlassen zu bemerken: „Ach, Irrgläubige giebt es wohl überall, wohl auch in –“

„Wohl auch in diesen Klostermauern“ wollte ich sagen, aber ich besann mich, daß dies weder zart noch tactvoll, und daß die Klosterzelle wohl überhaupt nicht die geeignete Stätte wäre, um meine Lessing’sche Weisheit anzubringen. Sie schien aber auch [34] das ungesprochene Wort verstanden zu haben, denn das sonst so liebliche Gesicht nahm plötzlich einen kalten und fremden Ausdruck an; sie wünschte mir „Gute Nacht“, ohne aufzuschauen, und verließ das Zimmer. Allein gelassen, fing ich an, mir die bittersten Vorwürfe zu machen, lehnte mich aber dabei in die weichen Kissen zurück, suchte mein Gewissen zu beschwichtigen und schlief endlich sanft ein.

Zu derselben Zeit, als das Klosterglöcklein die frommen Schwestern zur Frühmesse rief, tönten von draußen Hornsignale und Trommelwirbel, ja sogar das Knattern von Gewehrfeuer. Der Posten vor dem Gewehr klingelte heftig an der Thür und eine Ordonnanz brachte mir den Befehl, die Besetzung des Klosters einigen Compagnien eines andern Regiments zu überlassen und mich selbst mit meinen Mannschaften zu den drei übrigen Compagnien des Bataillons heranzuziehen, die mit ihren Tirailleurs einen Gartenzaun unmittelbar an der Chaussee besetzt hatten. Die Compagnien, welche zu meiner Ablösung bestimmt waren, marschirten auch bereits auf den Klosterhof. Ich rief meine Mannschaft unter die Gewehre und gab die Commandos zum Abmarsch. An der Klosterpforte wandte ich noch einmal die Blicke zurück. Aus einem der unteren Fenster des Klosters fiel ein heller Schein. Ich sah die frommen Schwestern dort im Gebetsaale knieen; unter ihnen erkannte ich ganz deutlich Schwester Charitas, das sanfte, liebe Gesicht jetzt noch durch den Ausdruck der Andacht verklärt, der darüber ausgegossen lag. Ob sie vielleicht auch die Irrgläubigen in ihr Gebet mit einschloß? –

Bald gewannen andere Dinge um mich her für mich eine größere Wichtigkeit, als das Klosterleben mit seinen Bewohnerinnen. Noch dauerte das Schießen bei den Vorposten – wenn auch weniger lebhaft als bei Tagesanbruch – fort. Die Ursache desselben war leicht zu erklären. Baiern und Oesterreicher hatten ihren gewohnten Morgenbesuch wiederholt, waren aber diesmal in Folge des erwähnten Ultimatums des Generals Grafen von der Groeben beim Ueberschreiten der Brücke von Bronnzell mit Feuer empfangen worden, das sie auch ihrerseits erwiderten. Zur Zeit, als ich mit meiner Compagnie zu den drei anderen des Bataillons stieß, gingen unsere am meisten vorgeschobenen Vorpostenabtheilungen soeben durch unsere Avantgardenstellung zurück. Wir waren also jetzt die Nächsten am sogenannten „Feinde“ und erwarteten mit klopfendem Herzen den weiteren Angriff in der Voraussetzung, daß das bisher Geschehene nur die Einleitung zu einem ernsten Gefechte, vielleicht zu einer großen Schlacht gewesen sei. Um diese Zeit sah ich auch den ersten – und Gott sei Dank den einzigen – Verwundeten des Tages. Es war ein Schimmel, der mit gesenktem Haupte von einem Trompeter am Zügel auf der Chaussee zurückgeführt wurde. Die blutigen Spuren auf der Straße zeigten, daß er nicht ohne Blutvergießen das Feld geräumt hatte. Hätte ich geahnt, welche Bedeutung dieser Schimmel von Bronnzell dereinst in der Weltgeschichte gewinnen würde, ich hätte ihn mir doch noch näher angesehen; für jetzt begnügte ich mich, ihm einen fast neidischen Blick nachzuschicken. Denn soeben schienen die Dinge wieder eine ernstere Wendung zu nehmen. Die Köpfe der uns gegenüber ausgeschwärmten österreichischen Jäger tauchten hinter ihren Deckungen hervor. Eine Batterie rasselte an uns vorüber und nahm Aufstellung auf dem Hügel bei dem Klostergebäude. Im nächsten Augenblicke konnte vielleicht schon eine Granate in das Haus einschlagen, das mir über Nacht gastliches Obdach gewährt hatte, und die frommen Schwestern aus ihrer friedlichen Weltabgeschiedenheit vertreiben. Ein Courier jagte auf der Chaussee vorüber, mitten durch unsere Tirailleurlinie hindurch.

„Halt, halt!“ wurde er von verschiedenen Seiten angerufen.

„Depesche aus Berlin an Seine Excellenz den Grafen von der Groeben!“ rief er im Gefühle seiner Wichtigkeit, ohne auf den Zuruf zu achten, und hielt einen dick gesiegelten Brief in der Rechten empor.

Wer doch gewußt hätte, was in diesem Briefe stand! Wer wenigstens bei der Uebergabe zugegen gewesen wäre, um aus der Miene des Empfängers zu schließen, ob er Gutes brachte oder Unheil verkündete!

Wir Officiere durften natürlich unsere Plätze nicht verlassen, aber da stand unter uns unser Bataillonsarzt, nicht weniger wißbegierig als wir; er war nicht an den Platz gebunden und hatte überhaupt nichts zu thun. Der Doctor stieg also zu Pferde, und so wenig er sonst ein Freund scharfer Gangarten war, so zuckelte er doch in möglichst beschleunigtem Tempo hinter dem Courierpferde drein.

„Das hat nichts Gutes zu bedeuten,“ sagte er, als er nach einer halben Stunde zurückkehrte. „Der Graf hat die Depesche zuerst in die Tasche gesteckt und gar nicht gelesen. Als er sie dann hervorzog und las, machte er ein so langes Gesicht“ … dabei verlängerte der Doctor sein eigenes Gesicht kautschukartig, sodaß wir Umstehenden hell auflachen mußten. Hätten wir den Inhalt der Depesche gekannt, wir würden nicht gelacht, sondern ebenfalls lange Gesichter gemacht und eingesehen haben, daß dies die entsprechendste Illustrirung der Depesche wäre.

Bald darauf ritt der Obercommandirende mit dem Stabe an uns vorüber nach der Stadt zurück.

„Der General reitet nach der Stadt; dann ist die Schlacht zu Ende,“ so combinirten wir; dennoch blieben unsere Tirailleurs am Gartenzaun aufgelöst. Bürger aus Fulda kamen heraus und brachten uns die auf Veranstaltung des Obercommandos von ihren Frauen für uns gekochte Lieferung. Das gespannte Gewehr in der einen, den Kochlöffel in der anderen Hand, so gingen unsere Mannschaften zum Angriff auf die Mahlzeit, die ihrem kräftigen Appetit auch nicht lange Widerstand leistete. Ich warf einen sehnsüchtigen Blick nach dem Kloster, wo Schwester Charitas jetzt vielleicht einem Andern eine Stärkung darreichte; indessen sorgte mein Bursche, der meine Lieferung in einer Küche der Vorstadt, wie er mir sagte „unter Anleitung einer tüchtigen Köchin“, zubereitet hatte, dafür, daß auch mein Hunger gestillt ward.

Nach dem Essen ist der Mensch erfahrungsmäßig gemüthlicher und daher auch weniger blutdürstig, als vorher. Wir waren ganz zufrieden, als der Befehl kam, unsere seit der frühen Morgenstunde ausgeschwärmten Tirailleurs einzuziehen und in die Bivouacs einzurücken. Der Inhalt der oben erwähnten Depesche an den Obercommandirenden war aus dem, was nun folgte, leicht zu errathen. In der Nacht wurde der Befehl ausgegeben, daß mit Tagesanbruch die Truppen die Gewehre entladen und, ohne Spiel zu rühren, durch Fulda zurückmarschiren sollten, um zunächst die preußische Etappenstraße in Kurhessen bei Hersfeld zu besetzen. Dem ersten Schritte rückwärts folgten andere, eine anschauliche Illustrirung zu dem um diese Zeit in der preußischen Kammer gefallenen geflügelten Worte: „Der Starke weicht muthig zurück.“

Es kam eine trübe Zeit, in welcher wir lernten, daß es für den Soldaten noch eine schwerere Aufgabe giebt, als im Sturme der Schlacht das Leben in die Schanze zu schlagen oder auf leuchtenden Siegesbahnen vorwärts zu stürmen. Viel ist in dieser Zeit gefehlt und geirrt worden nach rechts und links, im Süden wie im Norden, aber wir haben aus unsern Irrthümern gelernt und unser wahres Ziel nicht aus dem Auge verloren. So bildet denn auch diese Zeit nur ein Stadium in der Entwickelungsgeschichte unseres Volkes zur nationalen Einheit. Wohl uns, daß wir jetzt – ein volles Menschenalter später – von dem erreichten Ziele leichten Herzens auf die durchmessene Bahn zurückblicken können!