Vollmondzauber/Viertes Kapitel
Den nächsten Abend hatten sich Bärenburg und Swoyschin bei dem Obersten zu einer gemütlichen Tarockpartie zusammengefunden. Der Oberst hatte soeben einen großartigen Pagat gemacht, als sein Diener, wie jeden Tag um diese Stunde, den Posteinlauf hereinbrachte. Der Oberst unterbrach die Partie, um denselben zu sichten.
„Für Sie ist ein Paket von Rodeck eingelangt,“ wandte er sich an Swoyschin, „ein Federfächer in Schildpatt gefaßt, Wert … Der Teufel auch …“ Und der Oberst betrachtete kopfschüttelnd die gelbe Postbegleitadresse. „Welcher der Damen bestimmen Sie denn das kostspielige Ding?“
„Ach, der kleinen Doktorin,“ erwiderte Swoyschn etwas verlegen, „ich hab’ ein Vielliebchen an sie verloren!“
„Und da schenken Sie ihr ein so pompöses Objekt?“ rief der Oberst. „Denn der Fächer muß pompös sein, nach diesem Signalement zu urteilen!“
[48] „Ich möcht’ ihr gerne eine Freude machen,“ entschuldigte sich Zdenko.
„Ja, sie ist gar so ein armer Hascher,“ äffte ihn Bärenburg mit humoristischem Augenblinzeln. Dann zog er seine Uhr, klappte den Deckel auf, klappte ihn wieder zu und erhob sich.
„Wollen Sie nicht zum Souper bleiben?“ fragte ihn der Oberst.
„Danke vielmals, Herr Oberst, kann leider nicht,“ entgegnete Bärenburg, „ich habe etwas sehr Wichtiges zu thun!“
„So, was denn?“ fragte der Oberst, dem es anfing, lustig in den Augen zu blitzen.
„Ich … muß einen Brief schreiben … an meine Mutter,“ versicherte Bärenburg scheinheilig.
„So … nun, da will ich Sie um Gottes willen nicht aufhalten!“ rief der Oberst. Er wußte genau, wieviel es geschlagen hatte, und daß sich Bärenburg zu einem Rendezvous begab. Und diese Kenntnis verdankte er durchaus nicht einer geschmacklosen Prahlerei Bärenburgs, der in Bezug auf seine „bonnes fortunes“ verschlossen war wie das Grab, sondern den Indiskretionen der „schönen Müllerin“, welcher er den Hof machte, und die sehr stolz auf ihre noble Eroberung war.
Die „schöne Müllerin“ war die Gattin eines behäbig und philosophisch veranlagten Dampfmühlenbesitzers, [49] eine üppige Blondine, die sich langweilte – und Bärenburgs Vorgänger war ein Bezirksgerichtsadjunkt gewesen.
„Empfehle mich Ihnen zu besonderer Gnade, Herr Oberst,“ sagte, die Hacken zusammenschlagend, Bärenburg, dann dem Vetter auf die Schulter klopfend, rief er: „Servus, Alter!“
Zdenko reagierte nicht. Der Oberst reichte ihm zum Abschied die Hand und warf ihm einen Blick zu, der so viel sagen sollte als: „Viel Vergnügen!“ – und Bärenburg verschwand. Hinter der Thür hörte man ihn noch leise und gefühlvoll eine Stelle aus Elsas Duett mit Ortrud pfeifen.
Der musikalische Oberst kannte die Stelle und summte lächelnd den Text dazu: „Es gibt ein Glück – es gibt ein Glück, das ohne Reu’ …“
„Verfluchter Kerl, der Bärenburg,“ wendete er sich hierauf an Swoyschin, „man kann ihm nicht gram sein, einen guten Witz hat er immer bei der Hand! … Und recht hat er noch obendrein!“ Noch einmal summte er vor sich hin: „Es gibt ein Glück – es gibt ein Glück, das ohne Reu’!“
Swoyschin, an dem diese sinnige Anspielung bis dahin spurlos verloren gegangen war, hob den gesenkten Kopf. Er schien sich zugleich beunruhigt und verletzt zu fühlen. Der Oberst hatte indessen mit mühsam gespielter Unbefangenheit fortgefahren: „Neben [50] all seinem anscheinenden Leichtsinn ist Bärenburg merkwürdig vernünftig. Es ist mir kurzweilig, zuzusehen, wie sicher er sein Lebensschifflein führt, anscheinend ohne je einen Blick auf das Steuerruder zu werfen. Er gönnt sich mancherlei Pläsir im Leben, aber er vermeidet es dabei spitzfindig, sich oder dem, hm! … in den meisten Fällen sollte es heißen … der andern zu schaden. Das ist eine große Kunst!“
Der Oberst verstummte, er war seine Weisheit losgeworden, aber er fühlte, daß es in einer schwerfälligen und aufreizenden Art geschehen war. Etwas unruhig erwartete er eine Gegenäußerung Swoyschins. Diese erfolgte erst nach einer langen Pause.
„Herr Oberst!“ begann mit finsterem Blick und nur mühsam von Freundschaft und Respekt zurückgehaltenem Zorn der Oberlieutenant, „Herr Oberst, ich bin nicht sehr scharfsinnig, aber ich müßte geradezu blöde sein, wenn ich nicht gemerkt haben sollte, daß Sie diesen Vortrag zu meiner speziellen Belehrung gehalten haben.“
„Ich mache kein Hehl daraus,“ erwiderte der Oberst.
„Was meinen Sie eigentlich damit, Herr Oberst?“
„Sich darüber klar zu werden, überlasse ich Ihnen,“ entgegnete der Vorgesetzte.
„So gut ich’s verstehe,“ erklärte Swoyschin, „scheinen Sie zu glauben, daß meine Beziehungen zu [51] der armen Swoboda mit denen meines Vetters zu der schönen Müllerin parallel laufen, daß ich aber die Sache zu ernst nehme.“
„Daß Sie die Sache zu ernst nehmen, glaube ich allerdings,“ erklärte der Oberst –, „daß Ihre Beziehungen zu der armen, nervösen kleinen Swoboda mit denen des Vetters zu der schönen Müllerin parallel laufen, glaube ich nicht – aber verzeihen Sie mir das harte Wort – wir sind ja ganz unter uns – eigentlich bedaure ich es.“
Der Oberlieutenant runzelte die Stirn. Der Oberst fuhr fort: „Es wäre normaler, gesünder, und … unschädlicher!“
„Herr Oberst!“ rief Swoyschin fast heftig, „ich bin weder ein Duckmäuser noch ein Heiliger, aber eine Frau, in deren Häuslichkeit ich so vertrauensvoll aufgenommen worden bin, steht für mich außer dem Spiel. Ich habe nie Gelegenheit gehabt, ihr meine Achtung zu versagen, und habe ihr nie etwas angeboten als meine Freundschaft.“
„Freundschaft? Der Teufel hole die Freundschaft zwischen zwei so jungen Leuten wie Sie und die Doktorin!“ rief energisch der Oberst, „und was kann Ihre Freundschaft der kleinen Swoboda taugen?“
Swoyschin brachte seine alte bewährte Entschuldigungsformel vor: „Mir war so leid um sie. Sie ist gar so ein armer Hascher!“
[52] „Und glauben Sie, um mit Bärenburg zu reden, daß Ihre Freundschaft sie reich machen wird? Bärenburg hatte recht, von Anfang an hatte er recht in diesem Fall. Und ich war vernagelt. Das einzige, was Sie bewirkt haben durch Ihre Freundschaft, ist, daß sich die junge Frau über ihre Armut klar geworden ist. Wissen Sie, wie Sie mir vorkommen, Swoyschin? Wie die gewissen grausamen Volksbeglücker, die durch ihre thöricht verfrühten Bildungsversuche dem Volk die Fähigkeit abgewöhnen, sich in seinen kleinen Verhältnissen wohl zu fühlen!“[WS 1]
„Die arme Swoboda ist vielleicht zu gut für ihre Stellung. Sei’s darum! Immerhin hatte sie sich an die dumpfe Luft, in der ihre Existenz sich abspann, gewöhnt, hatte sich gewöhnt, ihr Leben hinter trüben Fensterscheiben abzuwerkeln, aus denen es keinen Ausblick gab. Sie haben die Fensterscheiben für sie gesäubert, so daß sie einen Ausblick in die große, sich draußen ausbreitende Weltschönheit gewonnen hat. Geöffnet aber haben Sie das Fenster für sie nicht. Und jetzt ist sie wie ein armer, gefangener Vogel, der die Grenzen seiner Gefangenschaft nicht begreift und sich gegen das Glas, das er nicht sieht, den Kopf wundstößt!“
Der Oberst hielt inne – der Adjutant sah düster vor sich hin. „Etwas Wahres ist wohl an dem, was Sie sagen, Herr Oberst,“ murmelte er, „ich muß zugeben, [53] daß Sie recht haben, aber ich hatte es wirklich nur gut gemeint!“
„Das, mein liebes Kind, brauchen Sie mir nicht erst zu versichern,“ erklärte der Oberst, „ich verüble Ihnen die Sache auch nicht weiter. Weniges auf der Welt wirkt schädlicher als zu fein fühlende Menschen – aber es gibt auch weniges, das sympathischer ist!“
Damit klopfte der Oberst seinem geliebten Adjutanten auf die Schulter, freundschaftlich, aufmunternd und etwas kräftig, – letzteres, um nicht selber in den Verdacht übermäßiger Feinfühligkeit zu geraten.
Der Diener meldete, das Souper sei angerichtet. Der Oberst versicherte seinem Adjutanten – vielleicht um der Situation ihre sentimentale Spitze abzubrechen –, daß er riesig hungrig sei, und als der Adjutant nicht zu einem ähnlichen Geständnis zu bewegen war, erklärte er ihm: „Was nicht ist, wird werden, – ich meine, in Bezug auf Ihren Hunger. L’appétit vient en mangeant. Was nun Ihre großen Sorgen anbelangt, so ist die ganze Sache doch nur eine Lappalie! Ein wenig Festigkeit und Takt bringt alles ins Geleise. Sie werden sehen!“ …
Aber der freundliche Oberst irrte sich.
Nach Beratschlagung mit dem Freund gab Swoyschin richtig den für sie bestimmen Fächer bei der kleinen Doktorin ab, nahm jedoch zugleich Abschied von ihr, da er für die Weihnachtsferien nach Hause reiste.
[54] Die kleine Frau, hocherfreut über das Geschenk, gab bei dem Abschied Beweise von nervöser Erregung, die zugleich rührend und beunruhigend waren. Es war, als ob sie ahnte, daß dieser Abschied mehr als eine Trennung für vierzehn Tage, – daß er den Abschluß der hübschesten Episode in ihrer kahlen, nüchternen Existenz bedeute.
Zdenko atmete auf, als er nach längerer Wagenfahrt in das Eisenbahncoupé stieg, das ihn nach der Heimat befördern sollte. Zum erstenmal klang ihm der Pfiff, mit dem die Lokomotive die Abfahrt verkündete, wie Musik.
Als er am zweiten Januar nach Breznitz zurückkehrte, hatte er die blasse Doktorin fast vergessen. Leider sollte sie ihm nur zu bald ins Gedächtnis zurückgerufen werden.
Wie sich’s von selbst versteht, fand er einen starken Einlauf von Weihnachts- und Neujahrskarten vor. Anfänglich äußerte er die Absicht, die Dinger en bloc an eine Cousine zu schicken, welche solchen Krimskrams sammelte. Der allezeit vernünftige Oberst wendete ihm ein, daß es vielleicht doch besser sei, die Kärtchen vorher anzusehen, es könne sich immerhin ein schlechter Witz zwischen diese Sendungen eingeschlichen haben, den es geraten wäre, einem jungen [55] Mädchen vorzuenthalten. Zdenko wunderte sich lachend darüber, daß ihm eine solche Möglichkeit nicht selber eingefallen war, und die beiden Männer machten sich daran, die Karten zu prüfen. Die meisten stellten sich als äußerst harmlos heraus – kleine Landschaften, Frauenköpfe, Pferde, Genrescenen in Farbe oder Lichtdruck ausgeführt. Plötzlich fuhr Zdenko zusammen und ließ eine Karte fallen, als ob es eine unvorsichtig angefaßte glühende Kohle gewesen wäre.
Der Oberst warf einen Blick darauf. Die Karte war mit einer Federzeichnung verziert, und zwar stellte dieselbe einen Dragonerlieutenant vor, der, inmitten eines Kirchhofs stehend, auf die ihn umgebenden, mit weiblichen Namen verzierten Grabsteine Thränen herunter weint, die im Verhältnisse zu dem aufgezeichneten Lieutenant die Größe eines mäßigen Wasserkürbisses aufwiesen. Darunter stand geschrieben:
„Stimmen aus der Unterwelt. Auf die bekannte Melodie von Rubinstein zu singen.
‚Schöner Zdenko, hüte dich,
Lächle nicht so lieblich,
Denk an Lydia B. … und Grete –
Hüte dich … hüte dich!‘
Eine Neujahrswarnung aus dem Jenseits!“
Dieser äußerst geschmackvolle Scherz vor von einem vergilbten Zeitungsausschnitt begleitet, den Zdenko neben die Zeitung hatte fallen lassen. Auf diesem [56] Zeitungsausschnitt erspähte der Oberst, welcher, wie fast alle Reiteroberste, sehr rasche Augen hatte, die in Fettschrift gedruckten Worte:
„Weiblicher Doppelselbstmord – beklagenswerte Opfer aristokratischen Leichtsinns. Die Stelle des herzlosen Verführers hat in diesem Fall Graf S…“
Und plötzlich trat dem Freiherrn eine dunkle, jämmerliche Geschichte ins Gedächtnis zurück – eine Geschichte, die er vor etwa drei Jahren in der Zeitung gelesen hatte und welche zwei junge Mädchen betraf, von denen sich die eine aus unglücklicher Liebe zu einem jungen Kavalier, Grafen S…, erschossen, nachdem ihre Freundin, um ihr Mut zu machen, sich durch einen ersten Schuß aus demselben Revolver entleibt hatte.
Er sah den Adjutanten verdutzt an. Dieser war totenblaß geworden. „Sie wußten doch von der Sache,“ begann er heiser.
„Von dem unglückseligen Vorfall hatte ich allerdings gehört,“ stotterte der Oberst –, „vielmehr hatte ich davon in der Zeitung gelesen … Aber ich war damals in Polen. Um zu erfahren, wer dieser Graf S… sei, hätte ich erst nach Wien schreiben müssen, – dazu interessierte mich die Sache zu wenig. Damals wußte ich noch gar nicht von Ihrer Existenz, mein lieber Swoyschin, und als Sie in mein Regiment eintraten, hatte ich den Jammer längst vergessen. [57] Übrigens wäre es mir auch nicht im Traum eingefallen, Sie damit in Verbindung zu bringen … Hm! … Also Sie waren der Held der Geschichte?“
„Held!“ … Swoyschin zuckte die Achseln – „was Held … der unschuldige, fast ganz unschuldige Anlaß war ich … weiter nichts!“
„Hm! … hm!“ Der Oberst trommelte mit den Fingern auf dem Tisch; ganz geheuer schien ihm die Sache doch nicht zu sein.
„Vor allem,“ fuhr Swoyschin fast heftig werdend fort, „bitte ich, mir zu glauben, daß von leichtsinniger Verführung, – ja, von irgend einer Verführung gar nicht die Rede gewesen ist. Das eine von den beiden Mädchen – die, welche sich zuerst umgebracht hat –, kannte ich fast gar nicht – und die andre – mit der hab’ ich allerdings eine Zeitlang viel verkehrt. Ich hatte sie kennen gelernt … durch irgend einen Zufall …“
„Das kann ich mir anbetrachts der Lebensstellung der Armen denken,“ murmelte der Oberst.
„Sie that mir leid, – ich nahm mich ihrer an … aber ich versichere Ihnen, Herr Oberst …“
„Daß Sie die Situation nicht ausgebeutet haben!“
„Gewiß nicht,“ beteuerte er, „im Gegenteil.“ Und der Oberst setzte etwas trocken hinzu: „Ich glaub’s Ihnen aufs Wort. Gewiß war das Mädel der aggressive Teil.“
[58] Eine lange Pause folgte. Swoyschin hatte die beiden Ellbogen auf den Tisch gestützt und hielt sich die Hände übers Gesicht. „Gegen das Mädchen ist auch nicht viel zu sagen, Herr Oberst,“ murmelte er. „Sie war ein armer Narr. Wissen Sie, was die ganze Sache auf die Spitze trieb?“
„Wie sollt’ ich?“
„Nun … es ist ein Fall, den ich Ihrem Urteil unterbreiten möchte!“
„Ich stehe zu Diensten,“ versicherte der Oberst.
„Es handelt sich natürlich durchaus nicht um eine Person mit tadellosen Antecedenzien – das ist ausgemacht. Sie war leichtsinnig, wie sie alle sind, und nebstbei ein wenig sentimental. Sie sehnte sich nach reiner Luft – nach anständigen Lebensbedingungen. Ich unterstützte sie darin und behandelte sie mit einer gewissen Rücksicht, die sie sich als Achtung auslegte. Unsre Beziehungen liefen daneben her wie sie konnten. Wie alle diese Art von Mädchen, wenn sie sich und das Leben nicht einfach nüchtern und cynisch auffassen, war sie total konfus.“
Der Oberst schüttelte den Kopf. „Wie Sie sich auskennen, mein Lieber,“ bemerkte er; „um so zu generalisieren, müssen Sie nach der Richtung hin ausgiebige kulturhistorische Studien gemacht haben.“
Swoyschin errötete ein wenig und fuhr fort: [59] „Sie dauerte mich. Um sie zu zerstreuen, ließ ich sie Stunden nehmen und borgte ihr Bücher. Sie las mit einer wahren Gier. Aber anstatt besser wurde es immer ärger und ärger mit ihr!“
„Das hätte ich Ihnen im voraus sagen können,“ meinte der Oberst. Ohne auf diese Bemerkung etwas zu erwidern, nahm Swoyschin seinen Bericht wieder auf:
„Sie trieb mich mit den unmöglichsten Fragen in die Enge, wie zum Beispiel, ob sie, wenn sie sich einmal von ihrer Vergangenheit losgelöst haben würde, noch das Recht hätte, einen Ehrenmann zu heiraten oder in einer anständigen Familie Erzieherin zu werden. Und andre solche Fragen, auf die es keine Antworten gibt, die sich in den Sackgassen der Civilisation die Köpfe wund stoßen. Mir war so schrecklich leid um sie, aber da ich gar keinen Ausweg mehr wußte und ich ohnehin zu diesem Verhältnis gekommen war wie der Pontius ins Credo, so zog ich mich zurück, löste es endlich schriftlich. Ich atmete auf, als es vorüber war. Eigentlich wunderte ich mich, daß sie die Trennung so ruhig hinnahm, – spottete mich aus dafür, daß ich die Person ernst genommen, und meinte, die tröstet sich mit einem andern.
Kurze Zeit darauf kommt meine Mutter mit meiner Cousine Annie nach Wien. Ich war selig und von früh bis abends mit den beiden beisammen, denen ich recht ausgiebig die Honneurs der Kaiserstadt [60] machen half, – denn meine Mutter hatte Wien beinahe vergessen, und Annie kannte es gar nicht, und ihr zwitscherndes Stimmchen war so herzig, und die großen, erstaunten Augen und die Atmosphäre von absoluter Reinheit und Lebensunkenntnis um so ein jungen Mädchen herum, – ach, was ist das lieb! Ich dankte meinen Sternen, daß es mit der armen Lydia aus war! Da, – wir waren in den Prater gefahren, und da das Wetter sehr schön war, stiegen wir aus, machten ein paar Schritte zu Fuß. Ich war ganz stolz, mich mit zwei so schönen Damen zu zeigen, denn meine Mutter ist immer noch eine schöne Frau, und Annie – Annie ist reizend. Alle Leute sahen uns an, unter andern ein paar Kameraden, denen die Neugier aus den Augen leuchtete. Da plötzlich kamen zwei merkwürdige Erscheinungen auf uns zu: Lydia und ihre Freundin – beide geschminkt, auffällig gekleidet, unmöglich. Lydia sieht mir voll ins Gesicht. Ich unterlass’ es, sie zu grüßen – absichtlich. Was hätte ich andres thun sollen?
Gegen Abend reisen meine Damen ab, ich begleite sie bis auf den Semmering – wir übernachten dort, bringen einen entzückenden Tag in den Bergen zu. Als ich spät abends des nächsten Tages nach Hause komme, find’ ich die Nachricht vor, daß sich Lydia Böckel bereits in der vorhergegangenen Nacht erschossen hat mit ihrer Freundin, – finde einen [61] Brief, in dem sie mich bittet, ein ‚Vaterunser‘ neben ihrer Leiche zu beten. Der Brief war lang, verwickelt, voll Phrasen, aber er schnitt mir ins Herz. An einen Satz erinnere ich mich genau: ‚Die Kluft zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich sein möchte, ist zu groß, als daß ich noch weiter versuchen könnte, eine Brücke darüber zu bauen. Es ist alles aus – nimm mir meinen Tod nicht übel und mach Dir keine Vorwürfe, Du kannst nichts dafür, hast nur Deine Pflicht gethan, aber ich … ich kann es eben nicht länger aushalten in einer Welt, in der es die Pflicht eines Ehrenmannes ist, Geschöpfe wie mich so tief zu verletzen, wie Du mich heute verletzt hast …‘
Wie das weh gethan hat – es war so schrecklich wahr! Natürlich fuhr ich sofort in die Roßau, wo sie wohnte, um ihre letzte Bitte zu erfüllen.
Es war gegen elf Uhr, als ich hinausfuhr. Sie kennen diese schwülen Sommernächte in Wien, die verpestete Luft, in der es nach allem riecht, was faul ist und was man den Tag über versteckt! Und am allerärgsten war die Luft in dem Haus, in dem sie wohnte, in der elenden Vorstadtbaracke! … Die hohe, schmutzige Treppe, die kein Ende nehmen wollte, und ganz oben im dritten Stock ihr Zimmerchen, das ich kannte. Sie lag auf ihrem Bett mit gefalteten Händen, auf dem Gesicht ein Ausdruck von unbefriedigter [62] Sehnsucht, der mir durch Mark und Bein ging! – Sie hatte sich ins Herz geschossen.
Vierundzwanzig Stunden waren seit ihrem Tod verflossen. Die Leiche war bedeckt mit Blumen. Alle hysterischen Frauen Wiens hatten Blumen geschickt, der Duft war betäubend, er mutete mich sonderbar an nach den Miasmen auf der Straße, auf der Treppe! … Ich kniete nieder und betete mein ‚Vaterunser‘, und während ich mitten im Beten war, hatte ich das Gefühl, jemand träte herein. Plötzlich überkam mich eine Übelkeit, eine Beängstigung – aus dem Blumenduft drang etwas Fürchterliches, Ekelhaftes, Schauriges. Ich richtete mich auf – und da … am Fußende des Bettes, auf dem die Tote lag, sah ich eine hohe, schmale Gestalt in einem schwarzen Mantel, deren Kapuze so weit um ihr Gesicht vorgezogen war, daß man dasselbe nicht erkennen konnte. Nur zwei ungeheure schwarze Augen sah ich, die mich gierig anfunkelten. Ich blieb stehen wie gebannt – die schwarze Gestalt kam auf mich zu. Sie machte den Eindruck zu schweben – ohne jegliche Bewegung ihrerseits – sie kam näher – alles drehte sich mit mir …
Als ich wieder zu mir kam, lag ich in meinem Bett. Man hatte mich ohnmächtig neben der Leiche gefunden und nach Haus transportiert. Ich fragte nach der schwarzen Gestalt, niemand konnte mir Auskunft geben … kein Mensch hatte sie bemerkt!
[63] Wer’s war … was es war … weiß ich nicht. Später redete ich mir ein, es müsse doch ein Gebilde meiner Phantasie gewesen sein, die Verkörperung meines schlechten Gewissens. Aber ich habe kein schlechtes Gewissen, Herr Oberst, ich habe Ihnen genau die Wahrheit gesagt. Was hätten denn sie gethan, wenn Sie mit, sagen wir, mit Ihrer Mutter und Schwester so einem Geschöpf begegnet wären?“
„Gewiß, mein Lieber, hätte ich in dem Falle nicht anders gehandelt als Sie,“ erklärte der Oberst, „und niemand konnte anders handeln, aber … Ihr Unrecht liegt weiter zurück … Unrecht … Unrecht ist nicht das Wort … Unklugheit … ich weiß nicht … kurz, Sie hätten das arme Ding nicht erst mit so viel Rücksichten verwöhnen sollen – Rücksichten, die doch zu nichts führen konnten. Wenn Ihnen noch einmal ein hysterisches Mädel nachläuft, so werden Sie lieber gleich von Anfang an grob, es wird Ihnen wenigstens die Notwendigkeit ersparen, zum Schluß grausam zu sein! Ziehen Sie eine Lehre daraus für die Zukunft – und im übrigen lassen Sie die Toten ruhen in Frieden; es taugt zu nichts, in Gräbern zu wühlen!“
„Ach, ich war so froh, ein wenig vergessen zu haben!“ murmelte Swoyschin, der ganz blaß geworden war. „Diese Zusendung“ – er deutete auf den Zeitungsausschnitt – „ist eine unerhörte Gemeinheit, [64] und derjenige, der sie auf dem Gewissen hat, der soll mir Rede stehen!“
Den Abend legte sich der Oberst mit einem bekümmerten, unbehaglichen Gefühl zu Bett.
Wie es sich herausstellte, hatte Swoyschin den Urheber des geschmackvollen Scherzes sofort erraten. Den nächsten Tag kam es zwischen ihm und dem schönen Hermann im Offizierskasino zu einer sehr kurzen, aber scharfen und deutlichen Auseinandersetzung, deren Resultat um vierundzwanzig Stunden später ein Säbelduell war, bei dem Swoyschin seinen Gegner unbarmherzig zusammenhieb. Er lieferte den Beweis, daß er in der Schlacht ganz tüchtig seinen Mann stellen würde, und daß seine übermäßige Feinfühligkeit wirklich nur dem zarten Geschlecht galt.
Er selber kam mit einer Schmarre davon, während Märzfeld lebenslänglich einen steifen Arm behalten sollte. Letzterer fand es auch geraten, den Dienst zu verlassen, was ihm insofern nicht allzu schwer fiel, als ihm die Reichtümer seines Vaters gestatteten, seinem anstrengenden militärischen Beruf gegen die angenehme Faulenzerexistenz eines Countrygentleman, der nicht auf das Erträgnis seiner Güter angewiesen ist, zu vertauschen.
Aber trotz des für ihn glänzenden Verlaufs des [65] Duells konnte sich Swoyschin zu keiner rechten Lustigkeit aufraffen. Der Oberst verwünschte die Taktlosigkeit Märzfelds und gönnte ihm alle Unbill, mit der er dafür büßen mußte.
Zdenko lebte jetzt noch zurückgezogener als früher, besorgte seine Dienstpflichten pünktlich, aber mechanisch, gerade so wie er jetzt musizierte – nämlich streng im Takt, aber ohne alle persönliche Empfindung.
Mehreremal erhielt er Briefe, die er einsteckte, ohne sie vor dem Obersten zu öffnen. Da übrigens der Adjutant des Obersten zu Neujahr als gänzlich geheilt aus seinem Sanatorium zurückgekehrt war, so war das Verhältnis zwischen den beiden natürlich einigermaßen gestört, der unbeschränkte Gedankenaustausch zwischen ihnen nicht mehr möglich.
Wenngleich Zdenko fortfuhr, im selben Hause mit dem Obersten zu wohnen, so wußte dieser in Bezug auf sein Privatleben doch nichts mehr, als was die ganze Stadt wußte, – daß Zdenko den Verkehr mit der hübschen, blassen Doktorin fast gänzlich abgebrochen hatte, und daß diese sich nicht hineinzufinden vermochte.
Ende Januar sah der Oberst bei helllichtem Tage Swoyschin aus dem kleinen, gelb angestrichenen Haus in der auf den Ringplatz hinaus mündenden Straße treten, das die Swobodas bewohnten. Er hatte die Augenbrauen fest zusammengezogen und die Zähne in [66] die Unterlippe gepreßt. Als ihn der Oberst anreden wollte, warf er ihm einen flehenden Blick zu und machte eine abwehrende Handbewegung, dann schritt er rasch und stumm an seinem Vorgesetzten vorbei.
Der Oberst begriff, daß er den jungen Menschen vorläufig in Ruhe lassen mußte; er erriet, daß Swoyschin endlich, um die Sache abzuschließen, sich zu der von der Doktorin so heiß ersehnten Auseinandersetzung herbeigelassen hatte; er erriet auch, wie dieselbe ausgefallen war.
Mehrmals im Laufe des Tages trat er leise an die Thür des jungen Mannes, welche dieser versperrt hatte; immer hörte er ihn im selben hastigen Schritt auf und nieder gehen. Das dauerte bis tief in den Abend hinein. Der Oberst hatte soeben das Souper abtragen lassen, als es an seine Thür pochte. Swoyschin trat ein, stumm drückten die beiden Männer einander die Hand, dann nahm Zdenko auf die freundliche Einladung des Obersten in seinem Lieblingseckchen Platz. Der Oberst gönnte ihm die Zeit, sich zu sammeln, beunruhigte ihn nicht mit Fragen, sondern sah ihn nur aus seinen freundlichen grauen Augen teilnehmend an.
Endlich räusperte sich der junge Mensch ein paarmal, dann begann er: „Sie haben das Ganze werden sehen – also kann ich offen mit Ihnen reden – und das erleichtert mir vielleicht die Seele. Mir [67] ist’s freilich heute zu Mut, als ob mir nichts mehr die Seele erleichtern könnte – aber das ist Unsinn, man lebt ja doch darüber hinweg.“ Er legte seiner Gewohnheit gemäß die Hand über die Augen, schöpfte tief Atem und fuhr fort: „Der Umstand, daß die Leute anfingen über meine Beziehungen zu der armen kleinen Doktorin zu reden, was die widerwärtige Neujahrssendung Märzfelds bewies, hatte mich – mehr noch als Ihre vorhergehenden, freundlichen Warnungen, Herr Oberst – dazu bestimmt, den Verkehr mit ihr so gut wie gänzlich aufzugeben, ihr gegenüber eine durchaus reservierte Haltung anzunehmen. Sie konnte sich nicht hineinfinden, armer Narr! – Sie schrieb mir Brief auf Brief, und ihre Briefe waren herzzerreißend! … Sie bildete sich ein, daß ein geheimer Grund mein verändertes Benehmen herbeigeführt haben müsse, – es konnte nicht mit richtigen Dingen zugehen, man mußte sie mir gegenüber verleumdet haben. Sie flehte mich an, ich solle ihr Gelegenheit geben zu einer Auseinandersetzung. Und endlich sagte ich mir, daß es so doch nicht weitergehen könne, und ich entschloß mich, ihre Bitte zu erfüllen.
Ich besuchte sie zu der Stunde, die sie angegeben hatte – einer Stunde, in der wir ungestört miteinander reden konnten –, ich hoffte, daß es mir gelingen würde, sie zu beruhigen.
[68] Natürlich … nur um sie so wenig zu demütigen als möglich, fing er damit an, ihr zu versichern, daß es mir wenigstens ebenso schwer falle, unsere Beziehungen abzubrechen, als es ihr schwer fallen könne. Ich hatte gelogen!“ Er stockte.
Der Oberst sah ihm forschend ins Gesicht. „Hm! Barmherzigkeitslügen sind erlaubt,“ brummte er – „nur beschwören sie manches Mal höchst unerwünschte Wirkungen herauf. Das mag wohl bei der Doktorin der Fall gewesen sein.“
„Ja,“ gestand Zdenko, ohne aufzublicken. „Sie war sofort bereit, alles über den Haufen zu werfen, ihren Mann, ihre Kinder, ihr Pflichtgefühl und die Meinung der Welt, – das war alles, als ob es nie für sie existiert hätte“ – er schüttelte sich – „es war gräßlich! Beim Anblick der beiden Selbstmörderleichen in Wien hatte ich nicht gelitten, was ich litt beim Anblick ihres armen Gesichts, als sie anfing zu verstehen, daß es keine Hilfe gab, daß es aus war, wirklich aus! – Ich mußte sie schließlich anfahren, ich mußte ihre Hände von meiner Uniform herunterreißen, so schwache, hilflose Hände! Ich höre noch den Laut, mit dem die Nägel an dem Tuch herunterfuhren! – Ach, ich versichere Ihnen, Herr Oberst, nichts auf der Welt ist ärger, als in so einer armen Frau die Hoffnung tot zu schlagen und sie ihrer Scham preiszugeben! Zehnmal lieber hau’ ich einem Kerl [69] wie dem Märzfeld mit meinem Säbel den Kopf ab bei einem Duell!“ Wieder hielt er sich die Hand über die Augen.
Aus einem verlegenen Schweigen heraus trachtete der Oberst den jungen Freund zu trösten.
„Gar zu ernst dürfen Sie die Sache nicht auffassen – sie wird’s verwinden – bei diesen sentimentalen, überspannten Frauen geht so etwas gewöhnlich nicht zu tief.“
„Ja, Herr Oberst, das Gefühl für mich geht vielleicht nicht tief, – aber der Ekel vor ihren Lebensbedingungen, der Ekel, den ich ihr unvorsichtigerweise beigebracht hab’, der geht tief! Mich würde sie wahrscheinlich leicht genug vergessen, wenn sie einen andern Ausweg aus der Plattheit ihrer Existenz finden könnte als ihre Leidenschaft. Haben Sie je eine Blume gesehen, die, im Schatten einer hohen Mauer aufwachsend, sich streckt und streckt bis über die Mauer hinauf, weil sie nicht blühen kann ohne Licht? Sie streckt sich und streckt sich, bis sie ganz dünn wird davon, aber es gelingt ihr doch, über die Mauer zu sehen, es gelingt ihr einmal, ihre Blüten zu entfalten und die Sonne zu grüßen. Und kaum, daß sie über die Mauer geschaut hat, kommt ein kalter Sturm und bricht ihre armselig und mühsam entfaltete Blüte ab! – Sehen Sie, Herr Oberst, an so eine Pflanze erinnert mich die Doktorin.“
[70] „Bah! werden Sie nicht zu poetisch und kommen Sie sich nicht gar zu wichtig vor, liebes Kind,“ erwiderte der Oberst, „die Sache wird sich geben, – viel schneller als Sie sich denken. In kürzester Zeit wird Gras gewachsen sein über die Sentimentalitäten der Doktorin!“
Der Oberst sagte Dinge, die er nicht glaubte, wie die meisten Menschen, wenn sie sich bemühen, ihre Nebenmenschen zu trösten, aber diesmal sollte sich seine Prophezeiung erfüllen, freilich in einer ganz andern Weise als der gutmütige Reitersmann dies gemeint hatte.
Wenige Tage nach dieser hier wiedergegebenen Unterredung erschien der Regimentsarzt bei dem Obersten, und zwar in Parade, was auf einen wichtigen Grund seines Besuches zu deuten schien.
Und einen wichtigen Grund hatte dieser Besuch. Wie es sich herausstellte, war Swoboda gekommen mit der Bitte, der Oberst möge ihm zu seiner Versetzung in ein andres Regiment verhelfen. Die ausschließlich tschechischen Schulen in Breznitz seien hinderlich bei der Erziehung seiner Knaben, begann er, und dann – seine Frau könne das Klima nicht vertragen.
Nicht ein unfreundliches Wort über die Frau, [71] nicht eine Anspielung auf den wirklichen Stand der Dinge! Der schwerfällige Regimentsarzt, Sohn eines kleinen Spezereikrämers aus Komotau, benahm sich wie ein Gentleman. Der Oberst zollte ihm in seinem Herzen die warme Anerkennung, die er mit den Lippen für immer verschweigen mußte! Und doch – als er ihn ansah, kurz, gedrungen, mit den schmalen grauen Augen in dem flachen, von einem blonden Vollbart umrahmten roten Gesicht, mit den kurzen, dicken Händen, die in den oft gewaschenen und etwas zu engen Militärhandschuhen doppelt dick und kurz aussahen, ergriff ihn zugleich mit dem Mitleid für den Mann das Mitleid mit der Frau.
Die Stimme des Regimentsarztes, immer ein wenig heiser und dünn, besonders in Anbetracht des Umfangs seines Brustkastens, klang, von seiner mühsam bekämpften Erregung zugeschnürt, geradezu krähend. Einer seiner Handschuhe war beim Knopfloch geplatzt – das rote Fleisch quoll hervor. Der Oberst erinnerte sich dessen, wie die Hände aussahen ohne Handschuhe – die stumpfen, rotbeharrten Finger, die flachen, schartigen, schaufelförmigen, fast nie ganz sauberen Nägel.
Es war wirklich zu traurig, die Frau dieses Mannes zu sein mit einer unglücklichen Liebe für Zdenko Swoyschin – traurig und ein wenig lächerlich zugleich, wie so viele Dinge im Leben.
[72] Da dem Obersten übrigens gar nichts gelegener kommen konnte, als die Bitte des Doktors, so versicherte er ihn aufs wärmste, daß er sich sofort für ihn verwenden wolle, und daß es ihm auch sicherlich gelingen werde, seine Versetzung zu bewirken.
Sobald der Arzt gegangen war, teilte der Oberst diese neue Wendung der Dinge seinem jungen Freunde mit, der seinerseits aufrichtige Befriedigung darüber empfand.
Bis dahin hatte er sich noch immer nicht beruhigen können; immer wieder hatten ihn die Bilder aus der Existenz der jungen Frau verfolgt, – ihre Existenz, in der alles klein war, außer der Sehnsucht, herauszukommen, einer Sehnsucht, die nicht befriedigt werden konnte. Er sah ihr kleines Wohnzimmer, die mühseligen Handarbeiten, die sorgfältig eingerahmten Vedutenphotographieen, die paar Blumen, alle ihre rührenden und kläglichen Versuche, sich aus der Kümmerlichkeit heraus den Weg zu irgend einem Ideal zu bahnen.
Es war besser, daß sie ging, leiden würde sie überall, aber vielleicht doch weniger, als sie hier litt.
Nach vielfacher Schreiberei erreichte der Oberst richtig die gewünschte Versetzung für den Regimentsarzt. Im Frühjahr sollte dieser die Garnison wechseln. [73] Seine Frau wollte er schon früher und zwar zu ihren Eltern schicken.
„Die Emmi ist den Umzugsstrapazen nicht gewachsen,“ erklärte er; „bei einem Umzug stehen immer zu viele Fenster und Thüren offen, da erkältet sie sich mir auf den Tod.“
Sie leistete keinen Widerstand, sondern erklärte sich mit allem zufrieden, was er vorschlug.
Im übrigen war ihre Haltung jetzt musterhaft. Man sah sie selten auf der Straße, und wenn, immer zwischen ihren zwei kleinen Buben – den Buben mit den dicken Köpfen und derben Stumpfnasen, die ihrem Gatten ähnlich sahen. Und die Buben machten verdutzte, traurige Gesichter, wie alle Kinder, wenn ihr Heim unter einem moralischen Druck leidet, wenn niemand mit ihnen spielt und lacht.
Frau Emmi wurde alle Tage schmäler und blässer und drückte sich alle Tage tiefer in den Schatten. Wenn es je vorkam, daß Swoyschin ihr begegnete, so erwiderte sie seinen ehrerbietigen Gruß mit einem Kopfnicken und einem ängstlich verlegenen Lächeln, bei dem ihr jedesmal die Thränen in die Augen traten. Von ihrer Zudringlichkeit, einem Versuch, ihn anzusprechen, ihre Beziehungen zu ihm neuerdings anzuknüpfen – nie eine Spur!
[74] Der Winter war kalt und lang, das einzige Vergnügen der Offiziere in Breznitz bestand im Schlittenfahren und Schlittschuhlaufen. Bei letzterem zeichnete sich der Oberst ganz besonders durch seine tüchtige, wenn auch ein wenig altmodische Kunstfertigkeit aus, während sich Swoyschin als ein Virtuose ersten Ranges erwies.
Beim Schlittschuhlaufen wurde er ausgelassen lebendig. Solange er, auf seinen schmalen Eisen dahinfahrend, allerhand spitzfindig ausgeklügelte geometrische Figuren beschrieb oder auch mit planloser Geschicklichkeit im Genuß rasch hinschwebender Bewegung schwelgte, vergaß er alle seine Sorgen, vergaß, daß es überhaupt Weiber auf der Welt gibt.
Der beliebteste Versammlungsort der Schlittschuhläufer war ein Weiher, der sich in einem von dem Garnisonsstädtchen eine halbe Stunde weit entfernten verwilderten Parke befand, der sich um ein verlassenes Schlößchen zog, das den Namen Monbijou trug und im Sommer zu einer Restauration verwendet wurde, während es im Winter gänzlich leer stand.
Es war ein poetisches Plätzchen, und die Soldaten mußten eifrig herhalten mit dem Herrichten der Eisbahn, mit Kehren und Schaufeln.
Die Offiziere liefen Schlittschuh bei Sonnenaufgang, sie liefen Schlittschuh bei Sonnenuntergang – sie liefen Schlittschuh bei Mondschein.
[75] Aber auch der strengste Winter nimmt sein Ende. Auf der Elbe draußen schwammen die Eisschollen, – den Tag zuvor war die Eisdecke geborsten mit furchtbarem Gekrach.
Aber der Weiher von Monbijou trug noch, wie die Offiziere sich ausdrückten; ein letztes Mal mußte man sich die Freude gönnen. Das Eis schwitzte bereits stark, und gewissen Stellen an der südlichen Seite des Teiches mußte man ausweichen. Der Park hatte seine weißglitzernde Märchenpracht eingebüßt und zeigte sich in seiner ganzen häßlichen braunen Vorfrühlingskahlheit, die Bäume schienen aus dem Schlamm herauszuwachsen, hie und da breitete sich ein schmutzigweißer Schneefleck zwischen zwei Pfützen aus. Es war häßlich, aber durch die Kronen zog sich ein geheimnisvolles Rauschen, das von kommender Frühlingsschönheit weissagte, und der Geruch, der aus der häßlichen, kahlen Erde aufstieg, kündete von neuem Keimen und Blühen.
Die Offiziere wußten, daß es ihr letzter Eistag war, und konnten sich von ihrem Vergnügen nicht losreißen – der Oberst mitten unter ihnen.
Ein paar Offiziersdamen mischten sich in den Reigen. Am Rande des Teiches stand eine Gruppe neugieriger Bürger und Bürgersfrauen und betrachteten das Schauspiel, unter ihnen die schöne Müllerin, die ihren Anbeter durch ein großmächtiges Opernglas [76] fixierte, und die gebildete Gattin des Schuldirektors.
Da erschien die Doktorin für einmal ohne ihre beiden Buben, aber mit dem traurigen, gebrochenen Blick in den Augen, den Swoyschin so gut kannte.
Auch die andern Offiziere kannten diesen Blick, besonders der Oberst. Ihm war sehr leid um die junge Frau. Er trat bis knapp an den Rand des Teiches, um sie zu begrüßen. „Sie schleifen heuer gar nicht, gnädige Frau,“ bemerkte er, „und sind doch, so gut ich mich erinnere, eine eminente Eiskünstlerin.“
„Ich hatte diesen Winter keine Zeit, ich mußte doch die Übersiedelung vorbereiten,“ murmelte sie schüchtern mit ihrer weichen, umflorten Stimme und ihrem fremdartigen polnischen Accent.
„Wie es scheint, werden Sie uns bald verlassen,“ bemerkte der Oberst.
„Ja, sehr bald.“
„Wann gedenken Sie abzureisen?“
„Morgen. Wenn die große Kälte nicht gewesen wäre, wär’ ich früher fort, – ich wollte das warme Wetter abwarten,“ erwiderte sie, immer in ihrer hastigen, eingeschüchterten Art.
„Nun, das warme Wetter scheint sich ernstlich eingestellt zu haben,“ mischte sich Bärenburg ins Gespräch, – offenbar drängte es auch ihn, ein letztes [77] Mal freundlich gegen die arme Doktorin zu sein, – „das Eis taut uns ja unter den Füßen, und dort, neben den Weiden“ – er deutete auf eine Stelle an der Südseite des Teichs –, „dort kracht es ganz abscheulich, man darf sich da gar nicht mehr hinwagen. Es ist heute entschieden unser letzter Tag. Schade, – es geht nichts über das Schleifen!“ Mit einer kühnen Wendung beschrieb er einen weitläufigen und verwickelten Schnörkel auf der Eisdecke, um dann plötzlich wieder vor der Doktorin, zu deren Verblüffung und Zerstreuung er sich angestrengt hatte, stehen zu bleiben.
„Ich bin auch immer sehr gerne Schlittschuh gelaufen,“ sagte die Doktorin.
„Schade, daß Sie es aufgegeben haben, gnädige Frau,“ rief jetzt eine Stimme, bei deren Klang nicht nur die Doktorin, sondern auch Bärenburg und der Oberst zusammenschraken. Es war die Stimme Swoyschins. Bärenburg und der Oberst fanden es ganz in der Ordnung, daß er der unglücklichen Frau zum Schluß ein paar tröstliche Huldigungen bieten wolle. Sie zogen sich zurück, um ihm freieres Spiel zu gönnen.
Die Situation war in jedem Fall linkisch für ihn; wenn er sich beobachtet gefühlt hätte, wäre ihm jeder Schatten von Unbefangenheit geschwunden.
„Also schon bald verlassen Sie uns?“ begann er, als sie allein waren.
[78] Sie nickte nur.
„Schade,“ meinte er, und dann nach einer Pause – es waren zu viele Menschen am Rande des Teichs, lauter Menschen, die ihn anstarrten – „wollen Sie nicht ein wenig schleifen zum Abschied?“
Sie machte ein unschlüssiges Gesicht – sie hatte keine Schlittschuhe mit. Eine der Regimentsdamen, die im Begriff stand, den Eisplatz zu verlassen, bot ihr ihre Schlittschuhe an. O, man war allgemein liebenswürdig gegen die Doktorin, seitdem man wußte, daß sie morgen abreisen sollte!
Konnte sie dem Vergnügen, ein letztes Mal mit ihm über das Eis hinzuschweben, nicht widerstehen oder war plötzlich aus der Freude an seiner Freundlichkeit eine verzweifelte Absicht in ihr erwacht?
Sie setzte sich auf eine Bank am Rande des Teichs, und Swoyschin kniete vor ihr nieder, um die Schlittschuhe an ihren Füßen zu befestigen. Ihre Füße waren sehr klein – rührend klein und schmal – die Schlittschuhe waren zu groß für sie. Swoyschin mußte sie zusammenschieben und schrauben. Als er sie endlich fest gemacht, bemerkte er: „Sie werden sich ein wenig unsicher fühlen das erste Mal, darf ich Sie führen?“ Sie legte ihre Hand in die seine, und sie schwebten dahin.
Sie wußte, daß er nur so gut gegen sie war, weil sie morgen abreiste – weil es ihn zu nichts [79] mehr verpflichten konnte, aber sie war doch selig. Auf ihren Wangen waren die Rosen erblüht, und aus ihren Augen strahlten die Sterne. Sie dachte nicht über den Augenblick hinaus, nicht an das, was später kommen sollte.
Man konnte sich keine bessere Partnerin wünschen zum Eislauf, – in jeder Bewegung paarte sich Sicherheit und Grazie – es war, als ob sie mit den Schlittschuhen an den Füßen geboren worden wäre.
Hie und da sagte er ihr etwas Weiches, Aufmunterndes. Sie antwortete nur mit einem verträumten Lächeln – wozu reden!
Fast eine halbe Stunde hatte er sie geführt. Dann hatte ihn Bärenburg abgelöst. Jetzt flog sie allein über das Eis, die Arme über der Brust verschränkt, mit halb geschlossenen Augen. Die Sonne senkte sich, die Schatten der Bäume streckten sich lang über das fahle, graugelbe Wintergras und die Flecken schmutzigen Schnees, die stellenweise übrig geblieben waren. Am östlichen Horizont glühte es dumpf rot hinter abdämpfenden Wolkenschleiern. Alle Konturen waren verwischt.
„Swoyschin, ich geh’ nach Hause – bleiben Sie noch?“ rief der Oberst, worauf der Oberlieutenant ihm erwiderte: „Nur einen Augenblick, Herr Oberst, ich begleite Sie.“ Er wollte nur zu der Doktorin hin, um sich von ihr zu verabschieden. „Gott [80] sei Dank, daß es vorüber ist!“ murmelte er, als er zu seinem Freunde zurückkehrte.
Er bückte sich, um sich die Schlittschuhe von den Füßen zu ziehen. Plötzlich entfuhr ihm ein halberstickter Laut, – dann den Obersten, der neben ihm stand, heftig am Arm packend, stieß er hervor: „Herr Oberst! … sehen Sie dort … die schwarze Gestalt, die gierigen Augen …“ Unter die herabhängenden Äste eines Faulbaums deutete er. Der Oberst sah nichts.
„Herr Oberst! …“
Plötzlich, was war das? Der scharfe harte Laut berstendes Eises, dann das zornige Aufrauschen von Wasser, das einen Menschenkörper verschlingt!
„Um Gottes willen, die Doktorin!“ schrie man von allen Seiten – „die Doktorin!“
Rascher als alle andern war Zdenko am Platz; er tauchte unter, hob den Kopf aus dem Wasser, tauchte noch einmal unter … Alles wollte auf den Platz zueilen, alle seine Kameraden ihm nachspringen. Aber es war nichts zu machen – das Eis trug keinen mehr – und einer, der durchbrach, nützte nichts. Alle, die sich ihm näherten, konnten nur hinderlich und verderbenbringend sein.
Ein paar Offiziere waren fortgeeilt, um Eishaken zu holen, damit die Öffnung der Eisdecke erweitert werden könnte. Atemloses Entsetzen … [81] fiebrige Spannung! Die Kameraden wußten, daß er nicht zurückkehren würde ohne sie.
Alles still … still … totenstill, – nur das Knistern und Knattern des berstenden Eises … da … jetzt tauchte der Kopf Swoyschins aus dem Wasser!
Bärenburg beugte sich vor und zog den Vetter ans Land. Zdenko hielt sie in den Armen … er hatte sie gerettet!
Gerettet? …
Dort auf die Bank neben dem Ufer legten sie sie nieder. Ihre Kleider waren schwer von Schlamm, das wasserüberrieselte Gesichtchen war weiß und rein und von einem wundersamen Ausdruck verklärt. Es war, als ob sie’ noch im letzten Augenblick gewußt habe, daß er sein Leben eingesetzt hatte für sie – als ob sie es empfunden, daß sie in seinen Armen gestorben war!
Zwei Tage später folgte das ganze Offizierscoprs dem Sarg der armen Doktorin bis zu dem nahen Kirchhof. Nur Swoyschin fehlte. Ein heftiges Nervenfieber hielt ihn auf seinem Lager fest.
Als sich sein Bewußtsein von seinen Delirien losrang, thaten sowohl der Oberst als die Kameraden, was sie konnten, um ihm den marternden Gedanken auszureden, daß die Unglückliche sich absichtlich auf das [82] dünne Eis gewagt hatte, vor dem sie ausdrücklich gewarnt worden war.
Es gelang ihnen auch, ihn zu beruhigen. Aber so fest ihre Behauptungen klangen, daß es lächerlich sei, die Katastrophe irgend einem andern Umstand als ein einem unglücklichen Zufall beizumessen, – im Herzen stand’s bei ihm fest, daß die arme Emmi Swoboda freiwillig in den Tod gegangen war.
Im Grunde genommen verwunderten sie sich darüber, daß Swoyschin sich die Sache verhältnismäßig rasch ausreden ließ, daß er sich früher, als man erwarten durfte, beruhigte.
Am meisten wunderte sich der Oberst. Doch hatte er schon einmal, als ihm der junge Mann seine Geständnisse hinsichtlich der unglücklichen Lydia Bökel-Katastrophe gemacht hatte, bemerkt, daß Swoyschin mit seinen selbstquälerischen Vorwürfen verhältnismäßig leicht fertig geworden war.
Es hatte ihm schon damals das ideale Bild seines liebsten Offiziers gestört. Jetzt störte es ihn wieder. Er tröstete sich damit, daß sich in dieser energischen Abwehr des Schuldbewußtseins der Selbsterhaltungstrieb einer sehr sensitiven Natur äußerte, die das Schuldbewußtsein entweder negieren oder daran zu Grunde gehen müßte. Der Selbsterhaltungstrieb war freilich an und für sich keine besonders schöne Eigenschaft, aber einem, der sein Leben so kühn aufs Spiel [83] gesetzt hatte, wie Swoyschin bei diesem Ereignis auf dem Eisplatz, dem konnte man etwas nachsehen.
Als gegen Ende April Zdenko von seinem Nervenfieber hergestellt war, nahm er einen einjährigen Urlaub. So schwer ihn der Oberst entbehrte, so hatte er ihm doch selbst zu dieser Unterbrechung des Dienstes geraten.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: “ fehlt.