Schnepfenthal am Thüringer Walde
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In geheimnisvoller Ordnung bewegt sich das unermeßliche Heer der Gestirne durch die grenzenlosen Räume des Weltalls, eine unsichtbare Macht leitet ihre irrenden Schritte, und in ewig fortstürmendem Fluge wandeln sie neben einander hin in der pfadlosen Wüste und berühren sich nie auf ihren ewigen Zügen. Eine einzige Hülle, undenkbar groß und ohne Grenzen, umfaßt sie alle. In des Aethers unergründlichen Tiefen schweifen sie umher, beleuchten sich friedlich die dunkeln Pfade und begleiten einander schweigend mit unendlicher Liebe. Sie möchten einander berühren: aber – „wallet einsam, ihr Bewohner meiner Himmel!“. – war der Spruch des Schöpfers, und das Gesetz hält die Nahenden aus einander.
Anders sprach er zu den Menschen: „Gesellt euch, liebt einander und wirkt für einander auf meiner Erde!“ – Und dem Gebote gehorcht das Geschlecht. Verwandtes fügt es in Liebe zusammen, es kettet die Geister mit unsichtbaren Banden und herrscht mit stillem Walten über die Herzen.
„Liebt Euch und wirkt für einander!“ In der rechten Ausübung dieses Gebots liegt der Zweck aller Menschenerziehung. Die wahre Pädagogik wird nie etwas anderes mit dem Menschen wollen, als Kräftigung seines Willens und seiner Fähigkeit zur Erfüllung dieses Gesetzes – und jede Bestrebung der Erziehung, die nicht in ihm, wie in einem Mittelpunkte, zusammenfließt, entfernt sich von ihrem würdigsten Ziele. Wie jenes Gesetz ewig und unveränderlich ist, ist daher auch die Pädagogik in ihrer Grundlage unwandelbar.
Aber die Formen der Erziehungskunst sind mannichfaltig. Jeder Erzieher kann einen eigenen Weg zum Ziele wählen, und er wird ihn stets mit Erfolg betreten, wenn er Kraft mit Ausdauer verbindet. Die besten Erziehungsanstalten geben davon den Beweis. Alle ihre Gründer gingen selbstständige Pfade, und alle gelangten zu dem nämlichen Ziele. So Pestalozzi, so Fellenberg, so Salzmann, und wo in ihres Gründers Geist der angebahnte Weg fortbetreten wurde, da erhielten sich ihre Institute auch nach ihrem Tode.
Salzmann’s Institut in Schnepfenthal hat nun weit über ein halbes Jahrhundert bestanden, und obschon sein großer Stifter lange von ihm geschieden ist, ward doch sein Ruf und sein Ruhm nicht kleiner. Die Ehre, dem Range nach die erste Erziehungsanstalt in Deutschland zu seyn, wird ihm noch heute zuerkannt. Die Pädagogik ist seit Schnepfenthals Entstehen fortgeschritten, wie alle Wissenschaften fortgeschritten sind; darum sind aber [27] die Früchte nicht unedler geworden, die an dem alten Stamme wachsen. Salzmann’s Geist, in seinen Kindern und Enkeln, welche der Anstalt vorstehen, oder ihr als Lehrer dienen, gleichsam verjüngt, ist die verhüllte Ursache des rüstigen Fortbestehens dieser Anstalt, der Urquell ihrer Lebensfrische, die Seele ihres Wirkens, der Grund ihres dauernden Gedeihens.
Schnepfenthal liegt in jener reizenden Gegend des Thüringer Waldes, deren Schilderung ich in einem frühern Bande (V. Band, Seite 25) unter der Aufschrift Reinhardsbrunn versuchte. Die Gebäude der Erziehungsanstalt stehen auf einem Hügel und hüten gleichsam den Eingang des Reinhardsbrunner Thals, von dessen Rande sie weitweg auf Thüringens Ebene schauen.
Salzmann, der mit Basedow in Dessau zusammen gewirkt hatte, gründete die Anstalt 1784 mit Unterstützung des einsichtsvollen Beförderers so vieles Guten, Herzogs Ernst II. von Gotha. Er kaufte den damals öden Hügel und begann die Errichtung der Institutsgebäude, welche, allmählig vielfach erweitert, vor einigen Jahren zu der schönen Gruppe vereinigt wurden, die wir auf dem Bildniß überschauen. Anmuthige Gartenanlagen umgeben sie von drei Seiten; ein Gehölz dicht daneben enthält die zu den Turnübungen nöthigen Anstalten, für welche, bei schlechtem Wetter, auch die verdeckte Reitbahn dient. Das Hauptgebäude enthält die Lokalitäten der Erziehungsanstalt: die Lehrzimmer, Speise- und Schlafsäle, die Kapelle, naturhistorische und andere Sammlungen; ferner die Wohnung des Direktors (Salzmanns, des Sohnes,) und seiner Familie. – In dem zunächst stehenden Gebäude wohnen die Lehrer. Es sind deren Zwölf; Verwandtschaft und innige Freundschaft knüpft sie zu einer Familie zusammen, in welcher reine Sitte, edle Gesinnung und das Bewußtseyn der Größe der übernommenen Pflichten für den gemeinschaftlichen Erziehungszweck gute Früchte tragen. Der Mittelpunkt dieses schönen Verhältnisses ist der Direktor, den alle Zöglinge mit „Vater,“ wie seine Gattin mit „Mutter“, anreden. In die ökonomischen Geschäfte der Anstalt (außer den 40 Zöglingen, die gewöhnlich da sind, macht das Lehrerpersonal, ihre Familien, Gesinde und Dienerschaft auch etwa 50 Personen aus,) theilen sich Gattin und Schwester des Direktors. Ihre Hände versorgen die Tafeln mit guter, einfacher Kost, eine treffliche Quelle vor dem Hause gibt den gesündesten Trank. Nur bei festlichen Gelegenheiten empfängt jeder Zögling ein Glas Wein.
Der Kreis der Schnepfenthaler Zöglinge gehört theils den höhern, durchgängig den gebildeten Ständen an, und selbst fürstliche Knaben fanden hier zuweilen das Glück einer guten Erziehung. Es erhalten die Eleven keine eigentlich gelehrte, aber eine sehr umfassende Schulbildung, welche sie befähigt, bei ihrem Abgang entweder die obersten Klassen eines Gymnasiums, oder einer Realschule, oder auch die Universität mit Nutzen zu besuchen, oder in das praktische Geschäftsleben überzugehen. Eine wahre Lust ist es, diese muntere, lebensfrische Jugend [28] zu sehen. Sie ist ein Bild von Kraft und Fülle der Gesundheit; – ganz anders, als jene Jugend, welche in den dumpfigen Schulstuben der meisten Gelehrtenschulen bleicht.
Auf die sittliche Veredlung des Menschen wird in Schnepfenthal mit zarter Sorgfalt gewirkt und die Gewohnheit pünktlicher, getreuer Pflichterfüllung nimmt fast Jeder als Schatz für’s Leben mit aus der Anstalt. Ordnung und Reinlichkeit gehen mit der Angewöhnung zu Sitte und Anstand Hand in Hand. Zu allen Beschäftigungen, zu Tische, zum Spiel, ruft die Glocke. Jeder Knabe hat ein Aemtchen im Hauswesen, oder einen kleinen Handel zu besorgen, und es wird streng darauf gehalten, daß dies exact geschehe. Ueber Einnahme und Ausgabe führt der Zögling Buch und Rechnung; ein wirksames Mittel, neben dem Sinn für geschäftliche Ordnung zugleich den für Sparsamkeit zu wecken. Ein eigener Arzt überwacht den Gesundheitszustand der Anstalt.
Pflege des Gemüths war von jeher ein Hauptaugenmerk bei dem Bildungsgange in dieser Anstalt. Die Vorträge bei den Gottesverehrungen, bei der Aufnahme neuer Zöglinge, bei öffentlicher Belohnung der Fleißigen und Guten und bei sonstigen Feierlichkeiten sind darauf berechnet, bleibende, tiefe Eindrücke auf die jungen Herzen zu machen. Sorgfältig räumt man jedes Hinderniß einer freien Entwickelung der Anlagen zum Guten aus dem Wege und erreicht schon Vieles durch die Unmöglichkeit, daß ein schlechter Umgang schädlichen Einfluß äußere, oder eine nachteilige Lektüre, verhältnißwidrige Zerstreuungen und rohe Vergnügungen dem Erziehungswerke entgegenwirken.
„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!“ – und Schnepfenthal kann stolz auf sie seyn. Es hat dem Vaterlande eine Reihe von Männern gebildet, die eben so ehrwürdig sind als Menschen, wie sie tüchtig sind als Geschäftsleute. Sein schönstes Zeugniß aber ist, daß schon so viele Väter ihre Söhne wieder der Anstalt anvertraut haben, in welcher sie selbst ihre Bildung empfingen.