zeichnet, dann kommt er zu jener unnachahmlichen, von Oberländer nie erreichten Drastik, die das Geheimnis seines Stiles und seiner Wirkung ist, und die im ganzen neunzehnten Jahrhundert nur noch ein anderer – dann allerdings in noch höherem Maße – besitzt: der große Hauptmeister der französischen Karikatur Honoré Daumier.
Drastisch ist Oberländer nicht oft, und seine ganze auf breite Schilderung ausgehende Kunst hat auch keine Möglichkeit, drastisch zu werden. Aber er charakterisiert doch nicht weniger fein als Busch, nur bleibt er immer dem Einzelfall näher. Oberländer erhebt zwar die Einzelerscheinung in ein höheres, dem Alltagsleben entrücktes Niveau, aber seine Figuren haben doch noch immer fast etwas Persönliches. Das fehlt bei Busch, der in seiner sparsamen Strichführung auf die schärfste und darum so sprechende Festlegung des Typischen hinarbeitet. Damit hängt auch die Einseitigkeit von Busch zusammen, der in viel engerem Sinn als Oberländer sich der Karikatur gewidmet hat, und der auch sonst nicht die große Vielseitigkeit wie Oberländer besitzt. Damit soll natürlich nicht einer über den anderen gestellt werden; denn die beiden großen Meister deutscher Illustration lassen sich eben nicht miteinander vergleichen. Sie ergänzen sich auch nicht einmal. Obwohl sie beide als Künstler dem Münchener Milieu entstammen, so sind sie doch verschiedene Wege gegangen, als seltene Vertreter der selbständigen deutschen Kunst.
Oberländer mag vielleicht sogar beanspruchen dürfen, insofern der Selbständigere zu sein, als bei ihm kein Einschlag von irgendwelcher Seite her zu spüren ist, während es bei Busch schwer fällt, nicht an die französischen Zeichner zu denken. Hiermit ist nun eine Seite von Oberländers Talent und Charakter berührt, die von ganz besonderem Wert und Interesse ist. Die Schule, der er angehörte, hatte von Anbeginn unter fremden Einfluß gestanden. Piloty und die Seinigen haben immer wieder alte oder ausländische Meister als Vorbild gebraucht, und man weiß besonders, wie selbst die berühmtesten Pilotyschüler von der alten Kunst beeinflußt wurden. Männer wie Lenbach, um nur den bekanntesten zu nennen, sind ohne das Beispiel der Alten nicht zu denken, und man nimmt das Beste aus ihrer Kunst, sobald man aus ihr die Anregungen oder mehr als das, die Anleihen, die sie bei Rubens, Tizian und den anderen allen gemacht haben, hinwegnimmt. Das ist bei Oberländer nicht der Fall. Er hat wohl den großen Respekt und die tiefe Vorliebe für die alten Meister, die man zur Zeit seiner Jugend in anderem – übrigens nicht in höherem – Maße als heutzutage hatte; aber er würde niemals auf den Gedanken kommen, bei Rembrandt
Karl Voll: Adolf Oberländer. Westermann, Braunschweig 1905, Seite 814. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Voll_Adolf_Oberl%C3%A4nder.djvu/9&oldid=- (Version vom 1.8.2018)