Voss ist im unrecht mit seiner Angabe, dass Bürger von seiner Magd Christine das Volkslied gehört habe. Auch wenn Althofs briefliche Äusserung zu Nicolai nicht widerspräche: aus Bürgers eigenen Briefen erfahren wir greifbar nur das eine (Strodtmann 1, 115), dass der Stoff aus einem alten Spinnstubenliede genommen sei; und die Hausmagd Christine (ebenda 1, 163) gehörte zu denjenigen Leuten des Volkes, welchen der Dichter seine bereits fertig gedruckte Leonore vorlas oder in diesem Falle vorlesen wollte, um die Probe ihres Eindruckes zu machen.
Boie-Althof-Voss hatten ferner Unrecht, wenn sie mit unbesorgter Sicherheit behaupteten, dass die Worte „Feinsliebchen graut dir auch?“ oder „Graut Liebchen auch? – Wie sollte mir grauen? Ich bin ja bei dir?“ aus dem von Bürger gehörten Volksliede stammten. Die „Ur-Leonore“ Bürgers hat sie überhaupt noch nicht, vielmehr ist dies ihm vorher, wie es scheint, nicht geläufig gewesene Wechselgespräch erst durch die Mitarbeit des Hains, dem das Gedicht zur Begutachtung vorlag, nachträglich auf Cramers und Boies Anraten (Strodtmann 1, 146. 149) eingeführt worden. Wäre das Pattbergische Volkslied aus Nachahmung Bürgers entstanden, so bliebe unbegreiflich, wie der Nachdichter sich dieses so ganz allgemein volkstümliche Moment nicht angeeignet haben sollte: in diesem Punkte steht also die Wunderhorn-Lenore auf derselben Stufe wie Bürgers frühester Entwurf.
In der Urgestalt der Bürger’schen Leonore hatte die 19. 22. 24. Strophe noch den Ausgang
Der volle Mond scheint helle;
Wie ritten die Todten so schnelle –
und gegen die Umwandelung dieses Ausrufes in die ruhigere Bekräftigung „Die Todten reiten schnelle“, die Boie forderte (Strodtmann 1, 159), sträubte sich lange Bürgers Gefühl, weil „er sich dies nicht erkünstelt, sondern es ihm anfangs gleich vorgeschwebt habe, dass es so seyn müsste“, bis der Ausruf endlich doch aus seiner Leonore schwand. Das Volkslied der Frau Pattberg aber hat ursprünglich (unten S. 109) denselben Ausruf
Wie reuthen die Todten so schnelle,
den erst Brentano aufgab, der aber gleichwohl als volkstümliche Form anderweitig bekannt ist. Frau Pattberg hat auch, wie wir gleichfalls neu erfahren, ein anderes Volkslied dem Wunderhorn (unten S. 110) vermittelt, das viermal mit der Zeile einsetzt
Ei, ei, wie scheint der Mond so hell,
Reinhold Steig: Frau Auguste Pattberg geb. von Kettner. Koester, Heidelberg 1896, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Frau_Auguste_Pattberg.djvu/34&oldid=- (Version vom 1.8.2018)