Englischen Gedichten gleichen Inhalts auf Originalität der Geschichte keinen Anspruch machen kann, wieder zu einer fast ursprünglichen Einfachheit wie in jenem Liede des Wunderhorns zurückgeführt worden sey, so würde ich diese Entdeckung des Rec. als einen merkwürdigen Beytrag zur Geschichte der Poesie betrachten.
Man wird es begreiflich finden, dass Arnim den Namen der Frau Auguste Pattberg, wenn er ihn noch wusste, nicht in die Diskussion werfen mochte; auch, dass er sich stillschweigend auf seinen Freund Wilhelm Grimm bezog. Die nun ganz auf Voss gestützte „Antwort des Recensenten“ hat kein selbständiges Interesse für uns; beide Parteien hielten, natürlich, ihren Standpunkt fest. Brentano hat im Fanferlieschen (Märchen 2, 268 ff.) das Lenorenlied anklingen lassen, und noch in der Zueignung des Gockel (Schriften 5, 12) spricht er, wenn ich ihn recht verstehe, die Überzeugung aus, dass, noch ehe Bürgers Leonore gedichtet war, derartige Gespenstergeschichten und Märchen in nächtlicher Rockenstube erzählt worden seien.
Dies ist der Thatbestand über Bürgers und des Wunderhorns Lenoren-Dichtungen, wie er damals vorlag, und seine tief in das persönliche Getriebe der beteiligten Personen eingreifende Geschichte. Ungewöhnlich reich erscheint sie uns, und dennoch in ihrem uranfänglichen Werden lückenhaft und unvollständig. Stellt man bei Bürger überhaupt die Frage nach der Herkunft seines Stoffes, so kann als ein wichtigstes Moment alles dasjenige, was ihm nicht dem Wortlaute, sondern dem Sinne nach im Gedächtnis blieb, nicht in Anschlag gebracht werden, und selbst die Vergleichung ähnlicher Dichtungen giebt uns doch im Einzelnen keinen festen Anhalt; die Volksballade des Wunderhorns aber verschwindet unserem Gesicht in dem Augenblicke, wo wir sie rückwärts über die Frau Pattberg hinaus verfolgen möchten. Wenn ich die spätere, litterarische Beurteilung der Wunderhorn-Lenore – ich verweise namentlich auf Wackernagel (Altdeutsche Blätter 1836. 1, 193. 196), Pröhle (Bürger 1856, S. 100), Goedeke (Grundriss 1881. 3, 39), Sauer (Kürschner 78, S. LV), Schmidt (Charakteristiken 1886, S. 222. 240) – mir vergegenwärtige, so glaube ich zu bemerken, dass im Durchschnitt die Vossische Kritik vor der Arnim-Brentano-Grimm’schen Auffassung im Vorteil geblieben ist. Jetzt, wo zu Strodtmanns authentischem Briefwechsel und Schmidts Bekanntmachung der „Ur-Leonore“ Bürgers der Originaltext des Pattbergschen Volksliedes hinzutritt, kann das Urteil ein anderes sein, und in diesem Sinne schliesse ich noch einige Bemerkungen an.
Reinhold Steig: Frau Auguste Pattberg geb. von Kettner. Koester, Heidelberg 1896, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Frau_Auguste_Pattberg.djvu/33&oldid=- (Version vom 1.8.2018)