und um nur den einen kurzen Schritt vom Wunderhorn zur Einsiedlerzeitung zu machen, auch Bettinens Seelied (vgl. Goedeke ² 6, 83, 1 Anmerkung) weist mit den Versen
Es schien der Mond gar helle,
Die Sterne blinkten klar,
einen ähnlichen Eingang wie das Volkslied der Frau Pattberg auf. Wer wäre also gezwungen, bei diesem letzteren durchaus an Bürger zu denken?
Bürger hat dem alten Lenorenstoffe eine moderne Verknüpfung mit dem siebenjährigen Kriege gegeben: mit der Prager Schlacht (Str. 1 ⁶) und dementsprechend mit Böhmen, wo Wilhelm begraben liegt (Str. 15 ²). Die abmahnende Beschwichtigung der Mutter, in Strophe 8,
Hör, Kind! Wie, wenn der falsche Mann,
Im fernen Ungerlande,
Sich seines Glaubens abgethan,
Zum neuen Ehebande?
steht mit dieser Modernisierung, wie mir scheint, in Widerspruch. Die Mutter kann nur meinen, dass Wilhelm in Ungarn vielleicht ein Türke, ein Muselmann geworden sei. Jedermann sieht, dass dies Motiv für das Ungarn der siebenjährigen Kriegszeit nicht mehr zutrifft. Es muss die Stelle also ein von Bürger nicht preisgegebener Rest des alten Gedichtes sein, dessen Tradition bis in die türkische Herrschaft über Ungarn, also bis in das 17. Jahrhundert etwa, hinaufreicht. Das Volkslied der Frau Pattberg aber weiss es gar nicht anders, als dass der Tote „dort drin im Ungerlande“ ein kleines Haus, sein Grab, habe. Was ist nun wohl das Natürliche? dass ein volkstümlicher Nachdichter Bürgers irrig „im Ungerlande“ anstatt „im Böhmerlande“ gesagt habe, oder dass in dem Pattbergischen Volksliede selbständig und unabhängig der alte echte Grund gewahrt sei? Ich glaube das letztere. Im Wunderhorn zieht den Toten einzig und allein die eigene Sehnsucht zur Geliebten, nicht zugleich auch die Sehnsucht der Geliebten selbst: wodurch der Ausgang des Volksliedes notwendig und gerechtfertigt wird. Gerade diese inhaltliche Verschiedenheit, die man durchaus nicht für eine Verflachung ansehen darf, verbürgt meinem Gefühl es am unmittelbarsten, dass das Pattbergische Volkslied nicht aus Bürgers Ballade geflossen sei.
Es ist überhaupt mit aller abstrakten Kritik individuell entstandener Phantasiegebilde ein eigen Ding. So nötig sie erscheint, so leicht ist sie auch dem Irrtum ausgesetzt. Wer mit neu erschlossenem Material in der Hand zu bestehenden Anschauungen seine Stellung nehmen musste, hat diese Erfahrung zweifellos mehr als einmal an sich selbst gemacht.
Reinhold Steig: Frau Auguste Pattberg geb. von Kettner. Koester, Heidelberg 1896, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Frau_Auguste_Pattberg.djvu/35&oldid=- (Version vom 1.8.2018)