Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen | |
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einst zerstreut und verzettelt worden. Hier und da tauchen noch immer einzelne Stücke auf, bei denen Reimers, als des Adressaten, Name entweder herausgeschnitten oder durch Federstriche unleserlich gemacht worden ist. Ich besitze selbst derartig mißhandelte Blätter von Arnim und von Heinrich von Kleist an Reimer, die noch nicht gedruckt sind. Es verschlägt indes nicht viel für unsere Frage, daß Grimms Briefe aus dieser Zeit fehlen. Die Zeugnisse, die ich beizubringen vermag, reichen aus, um darzuthun, daß die Dialektbehandlung der beiden Märchen nicht von Grimms herrührt.
Georg Reimer war ein Pommer von Geburt. Die Verlagsbuchhandlung, die er in Berlin begründet hatte, stand in hohem Ansehen. Er hing, vor den Freiheitskriegen, freundschaftlich mit denjenigen preußischen Patrioten zusammen, die den Kampf gegen Napoleon wollten und der Kanzlerschaft Hardenbergs widerstrebten. Er war der Verleger von Werken E. M. Arndts, Achims von Arnim, Heinrichs von Kleist, und alle die Drangsale, die das Hardenbergische Regime nacheinander über „seine Autoren“ (wie Verleger sagen) brachte, hatte er schließlich selber durchzukosten. Ein eben erschienenes Lebensbild aus der Feder seines Sohnes Hermann Reimer bringt uns gerade diese Verfolgungen wieder näher. Arnim vermittelte seinen Freunden Grimm in Kassel den Verlag der Märchen bei Reimer. Er benachrichtigte sie (13. Juni 1812), Reimer wolle ihre Kindermärchen drucken und sich so mit ihnen setzen, daß er ihnen dann erst ein gewisses Honorar gebe, wenn eine bestimmte Zahl von Exemplaren verkauft sei, womit Wilhelm Grimm sich einverstanden erklärte.
Diese Dinge bilden die Voraussetzung für die Mitteilungen aus Reimers Briefen, die nun folgen sollen. Reimer, der im Sommer 1812 seine Geburtsstadt Greifswald besucht hatte, schrieb auf der Rückreise, in Anklam, an Wilhelm Grimm (17. September 1812): „Ihren Brief vom 15. August habe ich erst vor wenig Tagen in Greifswald erhalten, lieber Grimm; er wurde mir dahin nachgesandt … Es freut mich, daß Sie meinen durch Arnim Ihnen gemachten Vorschlag annehmlich gefunden haben.“ Auf sein Ersuchen schickten die Brüder Grimm sofort Manuskript ein, und der Druck begann. Reimer am 30. Oktober 1812: „Ihre beiden
Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Georg Westermann, Braunschweig 1907, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Entstehungsgeschichte_Maerchen_Sagen_Grimm.djvu/14&oldid=- (Version vom 1.8.2018)