Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen | |
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Manuscriptsendungen (die letzte heute) sind richtig bei mir eingetroffen, lieber Grimm. Der Druck war inzwischen so weit vorgerückt, daß es an Manuscript zu fehlen beinahe anfing, indem schon elf Bogen gesetzt sind, ich Ihnen auch hiebei bereits Aushängebogen senden kann. Möchten Sie sowohl in Ansehung des Äußern als besonders auch der Correctur sich für befriedigt erklären!“ Da das Märchen vom Fischer und siner Fru, das bei Grimms zuerst kommt, in der Ausgabe von 1812 die Seiten 68 bis 77 umfaßt, also auf dem fünften Bogen steht, so kam es den Brüdern auf den Aushängebogen, die sie jetzt erhielten, bereits im Reindruck zu. Reimer empfand, daß ihnen die äußere Gestalt desselben auffallen müßte, und fortfahrend in seinem Briefe gestand er zu seiner Entschuldigung und ihrer Beruhigung ein: „Das plattdeutsche Märchen habe ich aber vor dem Druck selbst noch der Correctur unterwerfen müssen, und ich hoffe deshalb Ihre Verzeihung zu erhalten, da die Erzählung aus meinem Geburtslande stammt und ich also einige Einsicht darin zu haben glaube; auch habe ich mit aller Sorgfalt jeden zweifelhaften Ausdruck genau mit Dähnerts plattdeutschem Wörterbuche verglichen und überdies mich noch eines verständigen Freundes Rath und Hülfe bedient. Freilich kommen immer noch einige Ausdrücke vor, die eigentlich nur dem Hochdeutschen entlehnt sind, allein diese ließen sich nicht ausmärzen, ohne ganze Perioden zu ändern. Wie erfeulich würde es mir seyn zu hören, daß mein Verfahren Ihnen weder ungeschickt noch eigenmächtig erschienen sei, und Ihre Billigung erhalten habe.“
Also Reimer hatte eigenmächtig und ohne Auftrag gehandelt. Zwar Greifswald und Wolgast liegen nicht weit voneinander. Aber war Reimer mit dem Plattdeutsch wirklich so vertraut? Ich habe als die Regel erfahren, daß Städter, selbst Kleinstädter, das Platt des umliegenden Landes nicht beherrschen; schon zwei benachbarte Dörfer können verschiedene Mundart sprechen. In Runges Person war uns eine Einheitlichkeit der mundartlichen Behandlung gewährleistet, die vielleicht, was ich nicht weiß, in Kleinigkeiten irren mochte. Reimer dagegen hob diese Einheitlichkeit auf. Den Rungeschen Wein verschnitt er nicht nur mit eigenem, sondern auch mit Dähnertschem Gewächse. Das 1781 erschienene Plattdeutsche Wörterbuch von dem Greifswalder Professor
Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Georg Westermann, Braunschweig 1907, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Entstehungsgeschichte_Maerchen_Sagen_Grimm.djvu/15&oldid=- (Version vom 1.8.2018)