nähert. Der Tag und die Wärme nehmen zu, die Nacht und die Kälte nehmen ab.
Der Sommer beginnt um den 21sten Juni, wenn der Faden am weitesten von dem Cruzifix entfernt, und am nächsten bey uns ist. Alsdann steht die Sonne am höchsten über dem Haupt des geneigten Lesers, und dieser Tag ist der längste. So wie sich der Faden wieder hinauswindet, kommt die Sonne immer schiefer gegen uns zu stehen, und die Tage werden kürzer.
Der Herbst beginnt am 21 September. Tag und Nacht sind wieder gleich, weil die Sonne, besage des Fadens wieder über dem Cruzifix steht. Aber je weiter er alsdann jenseits hinauslauft gegen den andern Pol, desto tiefer stellt sich gegen uns die Sonne. Die Tage und die Wärme nehmen immer mehr ab, die Nächte und die Kühle nehmen zu.
Der Winter beginnt, wenn am 20. December der Faden am weitesten jenseits von uns entfernt ist. Der geneigte Leser verschläft alsdann die längste Nacht, und die Sonne steht so tief, daß sie ihm noch früh um 9 Uhr durch des Nachbarn Caminhut in das Stüblein schauen kann, wenn die Fensterscheiben nicht gefroren sind.
Endlich wenn von diesem Tage an der Faden zurükkehrt, verlängern sich auch die Tage wieder. Am 22. Februar auf Petri Stuhlfeier kommt schon der Storch in seine alte Heimat zurük, und ungefähr am 20. Merz trift der rothe Faden wieder bey dem Cruzifix ein. Dieß hat noch nie fallirt.
Hieraus ist zu gleicher Zeit zu erkennen, daß nie auf der ganzen Erde die nemliche Jahrszeit herrscht.
Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Tübingen 1811, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schatzkaestlein_des_rheinischen_Hausfreundes.djvu/028&oldid=- (Version vom 1.8.2018)