Als man in der kaiserlichen Pfalz zu Ingelheim anlangte, fand man daselbst den Abt von Corvei, einen Verwandten des Kaisers. Er war mit seinen Mönchen von den heidnischen Sachsen aus seinem an der Weser gelegenen Kloster vertrieben worden. Wegen des Berichtes, welchen er dem Kaiser abstattete, beschloß dieser einen neuen Feldzug gegen die Sachsen, für welchen jedoch erst eine längere Vorbereitung getroffen werden sollte.
Emma konnte bald wieder mit ihren Schwestern an den Jagden des Kaisers teilnehmen. An den Abenden las Eginhard dem Kaiser und seinen Töchtern die alten Heldenlieder vor, die er zu diesem Zwecke sorgfältig sammelte, denn der fromme Kaiser zeigte sich auch darin groß, daß er für diese weltlichen Lieder ein tiefes Verständnis besaß.
Von allen Andern hörte Eginhard niemand so eifrig zu als Emma.
Einer der Gäste Karls des Großen, die bei diesen Abendgesellschaften zugegen waren, machte manche Einwendungen gegen die alten Heldenlieder, die an manchen Stellen noch recht heidnisch klangen. Es war dies der Vetter des Kaisers, der Abt Adelhord von Corvei, der mit Karl dem Großen erzogen war.
Zu Anfang des Sommers zog der Kaiser in den Krieg gegen die Sachsen. Zum ersten Male seit längerer Zeit begleitete ihn diesmal Eginhard nicht auf seinen Fahrten. Karl übergab ihm die Aufsicht über das Kaiserhaus zu Ingelheim, welches Eginhard selbst gebaut hatte. Dazu empfahl er ihm sein ganzes Hauswesen.
Jedoch blieb auch der Abt von Corvei bei der Familie des Kaisers zurück, welcher ihm ganz besonders die Sorge um seine Töchter empfahl.
Wenn die Gesellschaft in der Kaiserpfalz sich jetzt am Abende versammelte, so war Karl der Große fast der einzige Gegenstand des Gespräches.
Eines Abends sagte Eginhard, welcher später der Geschichtsschreiber des Kaisers wurde: „Ist es nicht seltsam, daß unser König und Herr schon jetzt den Beinamen der Große führt? Sollten nicht andere Helden einen so ruhmvollen Beinamen erst später erhalten haben?“ Der Abt lächelte und sprach: „Karl hat den Beinamen der Große schon in der Jugend empfangen. Damals bereits war er gewaltig stark und kühn und
Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/48&oldid=- (Version vom 1.8.2018)