öffnete sich an mehreren Stellen, strichweise fielen von selbst die Mauern; in vielen Orten zündete der Blitz, und manche sprachen: „Das ist das Ende aller Zeiten!“ Aber alle diese Krämpfe der Schöpfung galten nur dem sterbenden Roland.
Viermal hatte das Treffen trotz der Überzahl der Sarazenen eine für die Christen glückliche Wendung genommen. Aber allzusehr fluchte Mahomet den Franken, und das fünfte Mal wurde die Schlacht diesen schrecklich und schwer. Nur sechzig fränkische Ritter hat Gott noch verschont.
„Schöner Ritter!“ rief Roland seinen Kumpan Olivier an: „Siehst Du die vielen edlen fränkischen Kämpfer, deren Leiber den Boden bedecken? Wie mögen wir genugsam das schöne, süße Frankenland beklagen! Mein König Karl, mein Freund, warum bist Du nicht hier? Bruder Olivier, was sollen wir beginnen? Wie vermelden wir ihm unsere Lage? Ich will noch in mein Elfenbein stoßen, den Schall wird Karl vernehmen und seine Franken uns zuführen.“
Olivier meinte: „Als ich Euch darum bat, wolltet Ihr nicht blasen. Nun, da Ihr am ganzen Körper blutet, seid Ihr zu schwach dazu. Ich zürne Euch, denn Ihr habt Böses angerichtet, weil Ihr nicht blieset, so lange Ihr noch blasen konntet. Das vergebe ich Euch nicht, wenn Ihr auch der Bräutigam meiner Schwester Alda seid. Bei meinem Barte, sofern ich meine Schwester Alda wiedersehen könnte, nimmermehr solltet Ihr in ihren Armen ruhen.“
„Um Gotteswillen keinen Streit!“ rief der Erzbischof Turpin dazwischen, indem er seinem Rosse die goldenen Sporen gab, um schneller bei ihnen zu sein. „Das Beste, was uns noch begegnen könnte, wäre des Königs rasches Eintreffen, damit er nach unserem Tode schnelle Rache an den Ungläubigen nehme. Wölfen, Säuen und Hunden sollen unsere Leiber nicht zur Speise dienen. Wenn die Franken kommen und unsere zerstückten Leichen gewahren, dann werden sie absitzen, die Särge der Gefallenen auf Saumtiere laden und die Leichen innerhalb ihrer herrlichen Kirchen und Dome bestatten.“
„Wohl gesprochen, Herr!“ ruft der blutende Roland aus, führt sein Elfenbein zum Munde, hält es fest in der blutigen Hand und bietet alle seine Kräfte auf zum Blasen.
Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/193&oldid=- (Version vom 1.8.2018)