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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band |
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einer näheren Einsicht zurück. Noch tiefer kömmt das Laster, kommen die strafbaren Gewerbe und das Verbrechen in üppiger Entfaltung. Hier wird uns ein berechnetes Dunkel entgegen gehalten; wir wissen Vieles, wir vermuthen manches Andere über das innere Treiben dieser entsetzlichen Wohnungen; aber jeder Tag, jeder neue Prozeß vor den Assissen bringt uns den Beweis, daß wir nur einen Zipfel des geheimnisvollen Schleiers gelichtet haben, und wir erfahren mit Trauer, daß nach der Entdeckung und Bestrafung eines bisher unbekannten Lasters stets ein anderes, neues entsteht und an die erledigte Stelle tritt. Die Mythe vom Sündendrachen, dem für jedes abgeschlagene Haupt ein neues wuchs, findet hier ihre entfetzliche Lösung.
Man schätzt den Theil der Pariser Bevölkerung, welcher aus Laster und Verbrechen seine Nahrungsquellen schöpft, auf nicht weniger als 80,000 Individuen. Der Zahl nach stehen oben an die öffentlichen Dirnen; ihrer sind allein über 10,000, von denen 4000 die Polizei registrirt hat. Fast jede hat ihren bevorzugten Vertrauten, ihren Souteneur, und die Mehrzahl dieser Letztern gehört zur Kategorie der Beutelschneider und Betrüger. Von diesen Individuen sind die meisten ohne Wohnung und Heimath; sie sind die gewöhnlichen Besucher jener Nachtherbergen, die in den elendesten und ärmsten Quartieren von Paris der Verworfenheit offen stehen. Wer in einer solchen Höhle des Lasters übernachtet, zahlt zwei Sous; darnach beurtheile man die Schlafstelle und das Haus. Mit ihnen rivalisiren die untersten Klassen von hotels garnies, wo sich die Hefe der Heimathlosen auf Wochen, Monate, Jahre um unglaublich geringe Preise einmiethet. Ihrer sind in Paris an 300, die über 10,000 Miethleute haben. Die Polizei überwacht diese Brüteplätze schauderhafter Laster und Unthaten mit Argusaugen, duldet sie aber, weil sie sonst die Fäden zu den Schlupfwinkeln des schlimmsten Theils der Bevölkerung zu verlieren fürchtet. In Privathäusern wohnen die Preller, Betrüger und Schwindler von Profession; ferner die Schmuggler; diese, 8000 an der Zahl, meistens an den Barrièren.
Es ist ein Merkmal, zu welcher Höhe in Paris die Kultur des Verbrechens gestiegen ist, daß die Dieberei sich förmlich zur Wissenschaft ausgebildet hat und ihre Jünger nach gesetzlichen Vorschriften Jahre lang das Noviziat und die Gesellenschaft durchgehen müssen, ehe sie zur anerkannten Meisterschaft gelangen. Die Pariser Diebe haben ihre Klassen und jede Klasse hat ihre Regeln und ihren Cursus zur Ausbildung. Das erste Glied der langen Reihe ist der Taschendieb (voleur à la tire), ein Künstler in Bezug auf das leichte Spiel seiner Hände, unschädlich für das Blut, aber sehr gefährlich für das Gut des Menschen, besonders für Uhren, Börsen, Taschentücher und Schmucksachen. Dann kommen die Bonjouriers, leicht, gewandt, gut gekleidet, sehr artige und zuvorkommende Leute, die unter zwanzig Vorwänden in einer Stunde in zwanzig verschiedenen Häusern die Treppe hinaufsteigen, das Zimmer eines Freundes suchen, stets ein Bon jour! in Bereitschaft haben, durch das Adreßbuch wenigstens die Namen von zwei Miethleuten der besuchten Hauser kennen und bei dem Pförtner nach einem dieser Miethleute fragen,
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1844, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_11._Band_1844.djvu/50&oldid=- (Version vom 27.2.2025)