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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band |
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Im Menschenmeere sind Paris und London die Punkte, wo das Senkblei keinen Grund mehr findet. Aufdecken wollen das ganze Leben dieser Städte, es in allen seinen Beziehungen, es in allen seinen Höhen und Tiefen anschaulich machen, ist vergebliches Streben. Eher könnte man ein Gemälde Dessen entwerfen, was auf dem Grund des Oceans sich regt und bewegt.
Aber wie man mit der Taucherglocke leichter Mühe Einzelnes aus der Liefe zu Tage holen mag, so mag auch der Beobachter einzelne Szenen des Lebens jener Riesenstädte beleuchten und den Stoff zu tausend und aber tausend Genrebildern herausnehmen, ohne ihn je zu erschöpfen. Die neue Sippschaft der Mysterienschreiber kann noch tausend Bände füllen; sie wird doch nur Tropfen aus dem Eimer schütten. Jederzeit wird in Paris und London dem Psychologen das belehrendste Feld zur Entdeckung und Forschung bleiben, jederzeit wird die Beobachtung Neues daselbst finden, und niemals wird die Aufgabe, das geheimnisvolle Leben jener Städte vollständig darzustellen, mehr als eine unvollkommene Lösung finden.
Es leben in Paris 1¼ Million Menschen. Vielfach geschichtet ist diese Bevölkerung; sie steht, nach Bedarf und Fähigkeit zu genießen, wie nach Rang und Vermögen, auf einer Leiter mit tausend Sprossen. Unser Bild nöthigt uns nicht, weit hinan zu steigen; denn zur Morgue, zu des Todes Findelhaus, schicken vorzugsweise Elend und Verbrechen auf den tiefsten Staffeln ihre Contingente.
Komm mit mir, Leser! und schaue. Folge mir in die Säcke und Höfe der Cité, in die finstern Gäßchen von St. Denis und du Temple, in die schmalen, schmutzigen Häuserchen von sechs Stockwerken, zu denen zwei Reihen Dachkammern als ein siebentes und achtes sich gesellen. Jedes Stock wird von 3 bis 4 Familien oder Genossenschaften bewohnt. Es sind Arbeiter; Arbeiter der untersten Klasse; Arbeiter, deren Beschäftigung das Leben nur zur äußersten Nothdurft fristet; doch ist’s nur der Armuth Jammer; das menschliche Auge darf wagen, ihn anzublicken. Aber eine Stufe tiefer – in jenen Hinterkämmerchen, wohin nie ein Sonnenstrahl dringt und nie ein reiner Lufthauch hinkömmt, – begegnen wir dem Elende der Nahrungslosigkeit. Hier, in dem Zwielicht ewiger Dämmerung, verwischt sich das Bild in ungewissen Umrissen, und wir weichen mit gepreßtem Herzen von
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1844, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_11._Band_1844.djvu/49&oldid=- (Version vom 27.2.2025)