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Seite:Meyers Universum 11. Band 1844.djvu/43

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Wohnungen: nach „Am Steg“ mit einem Posthause. Jenseits dieses Ortes passirt man den Kerstelenbach auf einer Brücke, von der man den Einblick in den tiefen, von schroffem Gebirg eingefaßten Maderanengrund genießt. Von diesem Punkte an steigt die Straße ohne Unterbrechung fort bis auf den Nacken des Gotthardts. Die Reuß bleibt die beständige Begleiterin; ihr immer und immer stärkeres Rauschen verräth ihr starkes Gefäll. Alle Berge werden majestätischer, ihre Formen markirter; die Welt der Hochalpen offenbart sich. Spitzen und Zacken ragen zwischen langen Jöchern, und von den Zinnen der Felsen sieht man die Nebel der Staubbäche, in denen sich die Sonnenstrahlen mit allen Farben des Regenbogens brechen. Der Wasserfälle ferner Donner wird häufig hörbar. Die Reuß tobt in tiefer Kluft dahin. Auf alten und neuen Brücken wird sie bald da, bald dort von der Straße überschritten, bis der „Pfaffensprung“ erreicht ist, eine Stelle, die jeden Wanderer fesselt. Hier stürzt sich die wilde Reus senkrecht in die furchtbare Tiefe, hervorbrechend aus einer schmalen Bergspalte, über welche, der Sage nach, einst ein Mönch, mit seinem Liebchen im Arm, gesprungen seyn soll, um zu entfliehen.

Reisende, deren Seele für das Große in der Natur nicht schon todt ist, wandern von da bis zum Gipfel der Gotthardtsstraße zu Fuße. Brücken folgen auf Brücken, eine kühner erbaut als die andere. Auch den Beherztesten ergreift wohl der Schwindel, wenn er über ihre Brustwehr hinab in den dunkeln Abgrund schaut, wo der Strom rast, Gischtwolken emporspritzend. Wasen wird erreicht, ein freundliches Dörfchen, das von „Am Steg“ zwei Stunden entfernt ist. Die Vegetation, bis daher noch üppig, wird nun ärmer. Mühsam und im Zickzack klettert die Straße an den steilen Thalwänden hinauf, bald hüben, bald drüben; tiefer, furchtbarer wühlt der Bergstrom, streckenlang zürnt er in schäumenden Wasserfällen. Giesbäche sieht man sehr häufig: öfters stürzen sie über die Straße und der Reisende blickt mit Verwunderung durch den dünnen, nassen Vorhang. Da, wo der Rohrbach aus enger Kluft, die mit wildem Gebüsch überwachsen ist, der Reuß zutobt, liegt ein Stein; – von dem weiß jeder Hirtenknabe zu erzählen, daß ihn der Teufel beim Erbau seiner Brücke verloren, und jeder warnt, sich darauf zu setzen. Wer möchte auch da ausruhen, wo die Schauer der großen chaotischen Natur rastlos vorwärts treiben? Nichts Freundliches begegnet mehr dem Auge; keine Hütte, kein Baum, kein schattender Busch; nur hie und da noch, unterm Schutze überhangenden Gesteins, wuchert zarter Farren oder gelbes Moos in den Klüften, oder ein einsames Alpenblümchen freut sich, ungepflückt, seines Daseyns. Kahle, oft über taufend Fuß hohe Felsmauern senken sich hinab, oder gipfeln als Thürme in die Wolken; oder aus schwindelnder Höhe gucken lockere Felsstücke, weit überhangend, auf den zagenden Reisenden hinunter, während schon hinabgerollte, hausgroße Massen zerschmettert am Wege liegen. Wann, wie es häufig der Fall ist, Gewitterwolken