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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band |
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Die Baugeschichte des Münsters steigt bis in die Frühzeit der ersten Ausbreitung des Christenthums in den Römerstädten am Rhein hinab. Da wo ein Marstempel in dem alten Argentoratum der Triboker gestanden, baute Chlodowig von 504–510 eine christliche Basilika. Das Langhaus derselben blieb bei dem neuen Hauptbau, welchen Pipin unternahm und Karl der Große fortsetzte und vollendete, stehen; und dieser Bau, byzantinischen Styls, mit seinen Gewölben aus leichten Tuffsteinen, hat sich bei allen Metamorphosen, welche spätere Veränderungen, Brand und Verheerung seit fast anderthalb Jahrtausenden brachten, bis auf den heutigen Tag erhalten. Nach der Erstürmung Straßburgs am 4. April 1002 durch Herrmann, Herzog von Elsaß, wobei der größte Theil der Stadt in Flammen aufging, ward auch der Dom, bis auf das unverwüstliche Langhaus Chlodowig’s, eine Ruine. Bischof Wernher restaurirte ihn prächtig; aber kaum war er vollendet, so zündete ein Wetterstrahl das Dachgebälke des Thurms, und der herrliche Tempel ging abermals in Flammen auf. Da lief die Sage durch die deutschen Lande, der Teufel selbst habe das Feuer gelegt, und damit die Freude des Höllenfürsten nicht dauere, so steuerten Alle, Reich und Arm, zum schleunigen Neubau des Gotteshauses. So reichlich floß der goldene Strom, den der fromme Sinn nach Straßburg leitete, daß Bischof Wernher den Bau noch viel großartiger und prächtiger, als den frühern, vornehmen konnte. Doch er starb lange vor der Vollendung, schon 1028. 30 Jahre später wurden die Seitenschiffe überwölbt und der Anbau der Kapellen beschäftigte die Bauleute noch bis in’s dreizehnte Jahrhundert. Um 1269 war der Münster ganz ausgebaut; von der Kunst geschmückt, von Innen und Außen stand er da, die große, sprechende That deutscher, einiger Frömmigkeit; aber noch fehlte dem Riesenwerk seine Krone; es hatte keine Thürme. Sie wurden der Gegenstand des dritten Hauptbaus – des schwierigsten – und er ist’s, der am längsten gedauert. Der größte deutsche Baumeister seiner Zeit, Erwin von Steinbach, entwarf auf Bischof Conrad von Lichtenberg’s Geheiß dazu den Plan. Die feierliche Grundlegung des ersten Steins geschah, nachdem der Rost vollendet war, am 25. Mai 1277.
Bischof Conrad schrieb dazu einen Ablaß aus – Jedem, der zu dem Thurmbau steuerte, sey es Geld, sey es Baumaterial, sey es Arbeit, sollten die Sünden vergeben seyn, die geschehenen wie die zukünftigen, auf 40,000 Jahre. Da wurde das Pergament theuer in Germanien, denn jede Sündenquittung war auf Eselshaut geschrieben. Geld kam ein zu Hunderttausenden, und das Feuer, welches der Ablaßkrämer angezündet hatte, flammte, nicht blos von der Frömmigkeit, sondern auch von stolzem, deutschem Volksgefühl genährt, noch lange fort. Jahr aus Jahr ein kamen Tausende von Arbeitern hergewandert aus allen Gauen Deutschlands, ihre Arme ohne Lohn zum Thurmbau anzubieten und aus den fernsten Marken, aus Oesterreich sogar, kamen Fuhrleute, die unentgeltlich Materialien zum Bau herführten. Reiche Legate wurden zum Bau gestiftet, Fürsten und Herren sendeten
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1844, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_11._Band_1844.djvu/181&oldid=- (Version vom 6.3.2025)