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Seite:Meyers Universum 11. Band 1844.djvu/180

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selbst wurden 1343 mit Erztafeln belegt, deren Relief-Darstellungen die Bewunderung aller Zeiten waren: aber in der Revolution wurden sie – eingeschmolzen und zu Pfennigen vermünzt! Glücklicher waren die herrlichen Bildwerke von Stein über dem mittlern Eingange; sie sind wohl erhalten. Sie stellen das Abendmahl, die Gefangennehmung Jesu, die Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt vor. Auf ähnliche Weise, gar sinnig, sind die Nebenportale geschmückt – Ornamente der reichsten Art ranken und gipfeln an der Thurmfaçade empor, Nischen bildend und umschließend, in welchen Bildsäulen von Helden, Hohenpriestern und Schriftgelehrten des alten Bundes, von Aposteln und heiligen Männern und Frauen, oder der Fürsten und Gesetzgeber des deutschen Volkes stehen. Allbewundert waren die kolossalen Equestralstatuen der fränkischen Könige Clodowig und Dagobert und Kaiser Rudolfs, des Habsburgers. Auch sie wurden von den bilderstürmenden Gleichheitsmännern herabgestürzt, und ihre Erneuerung gibt kaum eine Ahnung von dem, was sie ursprünglich gewesen. – Zur Plattform des Thurms, auf welcher der Wächter wohnt, führt eine kunstvolle Wendeltreppe von 329 Stufen. Von dieser Gallerie erhebt sich der eine der beiden projektirten Thürme vollendet in die Wolken – eine Pyramide, welche als ein Achteck mit stufenförmigen Absätzen äußerst künstlich und mit den edelsten Ornamenten aufgeführt ist. Sie endigt in einer Krone, aus welcher ein kolossales Kreuz emporstrebt, auf dessen Spitze ehemals die Statue der himmlischen Jungfrau gestanden. Aber schon 1488 hob man die vom Blitz getroffene herab und eine Steinplatte kam an ihre Stelle.

Göthe läßt sich über diesen Wunderbau also vernehmen: „Dem Meister galt es, Widersprüche zu vereinen; das Kolossale hier leicht und zierlich erscheinen zu lassen und, obschon tausendfach durchbrochen, ihren himmelanstrebenden Mauern doch den Begriff von unerschütterlicher Festigkeit zu geben. Die Ausführung dieser Aufgabe war die schwerste; in ihr lag der Gipfel der Kunst: und der Meister hat sie auf das glücklichste gelöst. Die Oeffnungen der Mauer, die soliden Stellen derselben, die Pfeiler, jedes hat seinen besondern Charakter, der aus der eigenen Bestimmung hervortritt; daher Alles im passenden Sinn verziert ist, das Große wie das Kleine sich an der rechten Stelle befindet, leicht gefaßt werden kann und so das Angenehme im Ungeheuern sich darstellt. Ich erinnere nur an die perspektivisch in die Mauerdecke sich einsenkenden, bis in’s Unendliche an ihren Pfeilern und Spitzbögen verzierten Thüren, an das wunderherrliche Fenster und dessen, aus der runden Form entspringende Kunstrose, an das Profil ihrer Stäbe, so wie an die schlanken Rohrsäulen der perpendikularen Abtheilungen. Man vergegenwärtige sich die stufenweise zurücktretenden Pfeiler, von schlanken, gleichfalls in die Höhe strebenden, zum Schutz der Heiligenbilder baldachinartig bestimmten, leichtsäuligen Spitzgebäudchen begleitet, und wie zuletzt jede Rippe, jeder Knopf als Blumenknauf und Blattreihe, oder als irgend ein anderes im Steinsaum umgeformtes Naturgebilde erscheint.“