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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band |
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Wesen der Zeit, was jetzt in Deutschland alle Geister erwärmt, das wird auch im Elsaß empfunden, und was uns diesseits ein Symbol geworden, wird auch jenseits verstanden. Man ahnet, daß, wie auch die Gegenwart sey, der Vergangenheit ihr Recht behalten werden müsse, und die Idee des Alterthums, welche die große Gemeinschaft der Deutschen als ein Reich ausprägt, verjüngt in die kommenden Zeiten treten müsse. Diese Ahnung, welche die Masse instinktartig bewegt, will, weil historisch, geehrt und geachtet seyn, und wird, wenn sie in eine selbstbewußte Anschauung übergegangen ist, nach dem gemeinen Gang der Dinge, einst das Aeußerste wagen, um jedes abgerissene Glied wieder zum organischen Ganzen zu fügen. Aber damit dies geschehen könne, müssen wir selbst erst ein frisches, grünendes, durch alle Triebe gekräftigtes Leben gewonnen haben, wir müssen zusammengewachsen seyn in einen Volksbund. Nicht zusammengehalten muß dieser seyn durch ein bloßes Pergamentband, sondern durch einen, der germanischen Volksnatur eigenthümlichen Organismus, dessen Theile sich wechselseitig kräftigen und beleben, erhalten und lieben, ernähren und begeistigen, und so jenes in sich geschlossene freithätige Ganze bilden, das mir als das erreichbare Ideal vom Staate vor Augen schwebt. – Hoffen wir, daß es dahin komme, helfen wir dazu, Jeder nach seinen Mitteln, daß es so werde; aber erwarten wir nicht von der nächsten Zukunft schon Erreichung dieses großen Ziels. –
Unter diesen Betrachtungen habe ich des französischen Straßburgs altdeutsche Straßen durchwandert – und ich stehe vor dem Münster. Welch ein Werk! – wie erhebt der Gedanke, daß es Menschen bauten! – Dieses Gotteshaus ist eine Messiade mit Lapidarschrift vom deutschen Volke in dreihundertjähriger Begeisterung geschrieben. Die tausend und aber tausend Bildwerke, Statuen und Ornamente daran ranken sich wie die tausend und aber tausend Aeste und Zweige, Früchte und Blätter eines Eichbaums zur Einheit empor, die das Ganze in sich beschlossen trägt. Nirgends hat hier das Einzelne Bestand in sich, es verliert sich willig an jenes Ganze, das alle Theile aus sich hervorgetrieben, so daß ein Jegliches in dem Andern sey und jeder Theil, der zum Organe des Allgemeinen wird, seine ganze Kraft erhalte. Im Münster sehe ich überall den großen Naturtypus der Germanen ausgeprägt und ich erkenne in ihm das innerste Prinzip des deutschen einen großen Volksstaats wieder.
Als Bauwerk reiht sich der Münster unter die größten und erhabensten des Mittelalters. Wie auch der Geschmack und die Mode in der Kunst gewechselt, jederzeit hat es die Bewunderung des Beschauers erregt, von welcher Nation sie auch waren und zu welchem Glauben sie sich bekennen mochten. Ja, keine Feder ist vermögend, den Eindruck stark genug zu beschreiben, den der Anblick dieses Tempels auf den Betrachter ausübt.
Hat man den Eindruck des Ganzen in sich aufgenommen und geht dann auf die Prüfung der einzelnen Theile des riesengroßen Gebäudes über, so weiß man nicht, welchen man den Vorzug geben soll: ob der stolzen,
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1844, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_11._Band_1844.djvu/178&oldid=- (Version vom 5.3.2025)