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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band |
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Auf eisernem Pfade denke ich mich vom Dämon Dampf im Fluge durch die Gauen des schönen Badener Landes geführt. Auf dem Stationshofe bei Kehl verlasse ich den bequemen Sitz und, meinen Reisesack an der Hand, wandere ich hinüber gen Straßburg. Kehl, einst eine starke Festung, die für das Reich, nach dem Verluste der Pfalz, ein Schild gegen Frankreich gewesen, hat jetzt das Ansehen eines offenen Dorfs. Von den Franzosen wohl ein dutzend Mal belagert, bombardirt, erobert, erstürmt und der Erde gleich gemacht, ist es zuletzt ein offenes Thor geblieben, durch welches die Straßburger Garnison jeden Tag, wenn sie Lust hat, uns einen Besuch in Karlsruhe oder Heidelberg abstatten kann. Beim Anblick dieser gänzlichen Schutzlosigkeit Deutschlands auf seinem wichtigsten und verletzbarsten Punkte erscheint mir der deutsche Bundesfestungsbau in Rastadt und Ulm wie eine Parodie. Zwar hat Germersheim einige Befestigungen: aber gegenüber den furchtbaren Linien Straßburgs – jenen Mauerkronen und Zinnen, auf welche das deutsche Volk einst mit Stolz hinblickte, jetzt aber nur gesenkten Auges hinschaut, wie ein Jeremias auf die Trümmer seines Tempels – gemahnen sie mir, wie ein Zwerg gegen Giganten.
Vor Strasburg theilt sich der Rhein in zwei Arme, welche ein Eiland umschließen, daß die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich bildet. Hier steht das Gebäude des französischen Mauthamts, berüchtigt und verhaßt wegen der Plackereien, die hier verübt werden, bei der ganzen Reisewelt. In geringer Entfernung von diesem Tempel der Zöllner und Sünder ragt Desaix’s Denkmal, von Trauerweiden umschattet und mit der Aufschrift: Desaix die Rheinarmeen. Welche Gegensätze der Vergangenheit und Gegenwart rufen die Paar Worte in die Erinnerung! Von dem Eiland führen zwei Schiffbrücken hinüber nach der wohlverwahrten Pforte Frankreichs, der Straßburger Citadelle. Vaubans Befestigungs-Genie hat da Unglaubliches geleistet.
Jenseits der Citadelle entfaltet die Stadt selbst, mehr ernst, als heiter, ihre dunklen Häusermassen mit den zahlreichen Thürmen. Obschon fast zwei Jahrhunderte lang abgerissen von dem Boden, in welchem sein ganzes Geschichtleben wurzelt mit allen seinen äußern Zeichen, – den großartigen Denkmälern der alten Kunst und deutscher Herrlichkeit – hat es sein Gesicht doch noch nicht im Mindesten geändert: es ist das alte, deutsche Straßburg geblieben, wie es zu Erwins und Guttenbergs Zeiten gewesen, und auch die Physiognomie des Volks ist noch durchaus deutsch, so sehr auch die Fremdherrschaft bemüht gewesen, daran zu fälschen und zu ändern. Die frische, unverdorbene, germanische Kraft im Volkscharakter des Pfälzers und Elsassers hat immer ein Gegengewicht gegen alle Bestrebungen der Herrschaft zum Aufpfropfen eines fremden Volksthums in die Waagschale gelegt. Ihr innerer Kern blieb unverfälscht deutsch, und zwei Jahrhunderte der Reibung haben die scharf ausgeprägte Nationalität nicht verwischt. Das deutsche Element, weit entfernt, abgestorben zu seyn, treibt im Gegentheile mit jedem Jahre frische Blüthen, es reift wieder zum Selbstbewußtseyn und verjüngt seine Kraft. Das
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1844, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_11._Band_1844.djvu/177&oldid=- (Version vom 5.3.2025)