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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band |
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Ornamente eine Meisterhand erkennen; was aber alle Herzen erfreut, ist die herrliche Aussicht aus den offenen Fensterluken auf die Burgen, die Seen, die Gebirge. Eine noch schönere ist dem Wagenden vorbehalten; ich sage, dem Wagenden; denn sie will mit einiger Gefahr erkauft seyn. Wer folgt mit hinauf zur luftigen Krähenwohnung, auf des höchsten Thurmes Zinne? Wohlan! die schwanke Leiter ist bald erstiegen und durch eine Bresche, welche mehr die Hand der Zeit, als die zerstörende des Pulvers, in die Mauer gerissen, erklimmen wir die Spitze.
Hier steh’n wir auf den Zinnen ser Felsenveste Twiel,
Da treibet auf der Eb’ne der Blick ein weites Spiel,
Durd Triften und durch Wälder, durch Klöster und durch Städte,
Hier ist kein Ziel zu finden, als grauer Alpen Kette.
Das Land der AlleMannen, mit seiner Berge Schnee,
Mit seinem blauen Auge, dem klaren Bodensee,
Mit seinen gelben Haaren, dem Aehrenschmuck der Auen –
Recht wie ein deutsches Antlitz ist solches Land zu schauen[1].
Und in der That, eine lachendere, eine reizendere, eine weitere Aussicht kann es kaum von einem Alpengipfel geben, als von diesem Standpunkte. Zu den Füßen öffnet das Schwabenland, öffnen die Kantone Basel, Schaffhausen, Thurgau und St. Gallen ihre landschaftlichen Schätze – ein anmuthiger Wechsel von Berg und Thal, Wald und Wiesen, Ruinen und Schlössern, Städten und unzähligen Dörfern; nahe glänzt der Bodensee wie ein leuchtendes Meer mit seinen Buchten und seinen Garteninseln Reichenau und Meinau, mit seinen Ufer-Städten, Flecken und Dörfern, – ihrer mehr als hundert. Man sieht den Rhein, wie er, noch mehr See als Strom, sich gegen Stein fortwälzt, wo er hinter hohen Felswänden verschwindet; dann kommt er wieder – in sanfter Schlangenwindung zieht sich sein Silberband bis nach Schaffhausen hin, um abermals sich hinter Wald und Fels zu verstecken. – Die Prachtpartie der Vista aber geben die südlichen Fernen, ist die Ueberschau der Alpen. Das Auge herrscht über die ganze Kette, von den Berner Gipfeln bis zu den Riesen Tyrols. In Erstaunen und Ehrfurcht versunken, schaut man auf diese Welt von Pyramiden, auf diese Hieroglyphen-Schrift, mit welcher der große Gott die Urgeschichte seiner geschaffenen Erde schreibt, – für den Menschen ein Stoff des würdigsten Forschens und der erhabensten Offenbarung. („Auf den Bergen tritt der Mensch, wie das Kind auf einen Schemel.“ Hippel.) Man sieht viele der hohen, nackten
- ↑ Gedichte von G. Schwab, II. Bd. S. 182.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Elfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1844, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_11._Band_1844.djvu/111&oldid=- (Version vom 3.3.2025)