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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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irrenden Kräfte gegen einander, das Leben der Erdsubstanz erlangt die höchste Spannung, die höchste Erregung, die Zeugung neuer Formen geht vor sich. Entkräftung folgt; die Vulkane erlöschen, oder sie stürzen in sich zusammen, die Gewässer sammeln sich wieder in den Tiefen und das starre Gestein ordnet sich schweigend nach ewigen Gesetzen und bildet neue Gebirge. Dann ruht die Erde, bis der Lebenscyklus der neuen Schöpfung vollendet ist und die glühende Kraft zu abermaliger Zeugung drängt.
In vielen Gegenden der Erde begegnen wir deutlichen Spuren solcher verschiedenen Zeugungsepochen; wir können die Denkmäler der ältern und neuern Umwälzungen genau unterscheiden und aus ihnen eine Chronologie der Erdgeschichte zusammensetzen. Mit Schärfe lassen sich vorzüglich die neuen und neuesten Revolutionen der Erdoberfläche verfolgen, bei denen vulkanische Kräfte eine Hauptrolle spielten: Kräfte, welche ihre Hauptherde hatten, von denen aus die Zerstörung in mehr oder minder weiten Erschütterungskreisen erfolgte.
Als ein solcher Herd für die letzte Umwälzung stellt sich das südliche Italien mit Sicilien und der benachbarte Theil des mittelländischen Meers dar. Die Neapeler Gegend zumal war eine furchtbare Mutter der Zerstörung. Noch sieht man die meisten dortigen Gebirge mit alten Laven überschüttet; sie und Basalte bilden den Boden des Meeres und ihre Gestade. Ueberall erheben todte Vulkane ihre kegelförmigen Häupter, oder zirkelrunde Seen lassen die Stelle der alten Krater erkennen. Mitten in diesem weiten Cyklus erstorbener, vulkanischer Thätigkeit ragt der feuerspeiende Vesuv als lebender Zeuge der Verheerungen, welche von hier aus bei der letzten Umwälzung der Erdoberfläche über drei Welttheile sich entwickelten.
Der Lago d’Averno gehört zu dieser merkwürdigen Gegend. Er liegt zwei Stunden von der Hauptstadt, dicht am Busen von Neapel, von dem es nur durch den Lukriner See und zwei schmale, dammähnliche Landzungen getrennt ist. Beide Seen sind zirkelrund und ihre Ufer sind offenbar nichts anders, als die Kraterwände, wie sie selbst die noch offnen, mit Wasser ausgefülllen Schlünde sind, aus denen einst die Flammen aus den Eingeweiden der Erde zum Himmel stiegen.
Der Averno ist von unermeßlicher Tiefe. Seine Ufer sind steil, fast senkrecht. Ehemals waren sie mit tausendjährigen Eichen bewachsen: aber das Erdbeben von 1538 schüttelte die Wälder von den Felsrippen, und seitdem sind sie mit Unfruchtbarkeit geschlagen und starren öde empor. Mephitischer Dunst entsteigt dem leblosen Gewässer, kein Vogel kommt in seine Nähe, kein Wild betritt seine Ufer; kein Mensch hat sich an demselben eine Wohnung gebaut; der Geist der Verlassenheit und des Grauens schwebt über dem See, wohin die schauerlichsten Mythen des Alterthums ihren Schauplatz verlegen. Schon die Griechen, welche sich zuerst in der Gegend niederließen, staffirten die höhlenvollen Ufer des d’Averno mit dem Eingange in das Schattenreich aus.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/85&oldid=- (Version vom 8.2.2025)