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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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Eidechsen sind Entdecker der jungen Continente, sie klimmen die Gestade hinan, freuen sich schüchtern des Frühlings reizender Schöpfung, betreten mit Lust den warmen Boden, vergessen aber die Heimath nicht und kehren zurück in die Gewässer, wenn sie müde sind der Lust, auf fester Erde zu wandeln. – Diese schmückt sich nun mit Wäldern und kleidet sich mit tausend Blumen; denn sie harrt auf höhere Wesen, sie will eine andere Thierwelt als Braut empfangen, eine Welt, die ihr ganz eigen sey. Sie kommt; edlere Geschlechter erscheinen. Der Vögel zahlloses Heer erhebt sich mit buntem Gefieder in die schweigenden Lüfte, durchirrt das stille Gebiet der donnergebährenden Wolken und füllt mit frohem Gesang die Räume des Aethers. Zu gleicher Zeit betritt das säugende Thier die blühende Schöpfung, und Wälder und Berge hallen wider von seiner Stimme[1].
Seitdem sind viele Millionen Jahre verronnen im Strome der Zeiten, und die Erdoberfläche hat viele Verwandlungen erlitten. Gleich dem organischen Keime entsproßten dem Kern der Erde Felsengenerationen, ihr kreischender Leib gebar ihre stummen Geschlechter, und kann schlummerte die Erde wieder, bis sie zu neuen Umwälzungen erwachte. Lange Zeiträume liegen dazwischen; denn viele Jahrtausende gehen vorüber und Aeonen schwinden dahin, ehe das Erdenleben von einer Staffel zur andern steigt, oder wie ein Baum die welke Pracht seiner Blätter abschüttelt und Knospen treibt zu einem neuen, schönern Gewande. Ist aber endlich ein Winter gekommen und naht der Frühling – dann zersprengt das gewaltige Feuer im Innern der Erde seine Fesseln, tausend Vulkane erheben sich, die Felsen wanken, Gebirge stürzen zusammen, Welttheile zertrümmern, Meere treten aus ihren Ufern und ihre Fluth verschlingt alle Formen: unter Donner und Sturm fällt die trennende Scheidewand zwischen den Körpern zusammen, sie vereinigen sich zu einem formlosen Chaos: in wilder Freiheit toben die
- ↑ Nur mit Mühe und langsam trennt sich das anorganische Leben von dem organischen – Mutter Erde verfolgt die organische Schöpfung in der That bis zur höchsten, erreichten Staffel. Die Kette der Wesen ist noch nicht geschlossen, bei welchen das Leben in den Fesseln der todten Substanz hängt; denn auch der Mensch ist ja sterblich! – Aber von Stufe zu Stufe läßt sich der Gang allmähliger Emancipation verfolgen, und eben diese fortschreitende Entwickelung ist Bürge dafür, daß einst Wesen folgen werden, die viel freier sind, als wir Menschen.
Mit dem Infusorien-Schalthier der Urwelt, deren Gehäuse jetzt ganze Gebirge zusammensetzen, beginnt die Reihe. So ist ein krystallinisches, belebtes Stäubchen anorganischer Masse mit Bewegung. In der Coralle überzieht das unbewegliche Gestein, wie eine Haut, ein Heer thierischer Bewohner. Es ist Generationen hindurch an das Fossil gekettet, das mit Uebermacht die belebte Substanz beherrscht. Das Skelett gebietet hier den Organen. – Höher schon als die Coralle stehen Muschel und Schnecke. Das Fossil ist ihnen zwar auch noch eine unzertrennliche Bürde: aber das Leblose muß doch dem Willen der lebendigen Masse gehorchen, es hat seine Oberherrschaft eingebüßt. Auch das zartere Insekt trägt noch die feste, unbewegliche Hülle und das Fossil umfängt noch sein inneres Leben. Erst bei den vollkommensten Thieren, bei dem Vogel und Vierfüßer, verbirgt das Fossil sich gänzlich, als Geripp zieht es sich in das Innere zurück, es gehorcht dem bewußten Willen.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/84&oldid=- (Version vom 7.2.2025)