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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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Flechten und Moose sind die ersten Kinder dieser neuen Schöpfung. Noch wiederholt sich das Entstehen derselben täglich vor unserm Auge; der Prozeß geht noch eben so vor, als am Fels, der die erste Pflanze trug. Zuerst nimmt nämlich die durch Verwitterung zersetzte Außenseite des Gesteins ein staubiges Ansehn an; hierauf zeigen sich farbige, meist grünliche Pünktchen; es erscheinen deutliche Körnchen, erst einzelne, dann viele; zuletzt treten die Körnchen zusammen. Unmerklich schwellen sie an, bis sie flechtenartige Schwämmchen bilden. Die kleine Pflanze ist fertig; wurzel- und zweiglos klebt sie am dürren Gestein. Während sie aus der Luft ihre Nahrung saugt, durchdringen die Atmosphärilien ihre Gefäße, und durch diese kommen dem todten Gestein neue Keime des Lebens zu. Die Pflanzenfaser fängt an sich auszubilden, sie kriecht hinab in die Klüfte des Gesteins, strebt aufwärts in die freie Luft, es scheiden sich Stamm und Wurzel; Pflanzen höherer Gattungen sind ins Daseyn getreten. – Auf diese Weise hat sich jedes entblößte Land auf dem Erdboden, jeder Berggipfel, jede Insel im Weltmeer mit der ihren Klimaten, ihren Boden- und Ortsverhältnissen angemessenen Pflanzenwelt bedeckt, und so würde sich die Erde neu kleiden, wenn einmal alle Vegetation von ihrer Oberfläche mit einem Male vertilgt würde.
„In’s Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist.“ Unbegreiflich bleibt die Urerzeugung der Wesen immerdar, am unbegreiflichsten zumal jene der thierischen Schöpfung, an deren Wiege wir jetzt treten.
Die urweltlichen Meere sind diese Wiege.
In ihren grenzenlosen Behältern strömten (in der Periode der Entstehung der Flötzformationen) die aufgelösten Gebirge zusammen; die Atome schwimmen fessellos umher, die starren Formen hielten sie nicht mehr gebunden. Urstoffe des Pflanzen- und Steinreichs, die zahllosen Zeugungskeime beider, wogten frei durcheinander und das Licht drang mit stiller Gewalt zu ihnen hinab in die blinkende Tiefe.
Jetzt zeigten sich in den weiten Gründen nie gesehene Gestalten. Schalthiere, monströse Gebilde, bewegliche Pflanzen und wurzelnde Thiere erfüllten die Meere, welche damals fast die ganze Erde bedeckten, wie die bis an die höchsten Gebirgsrücken ansteigenden Schichten urweltlicher Conchilien beweisen.
Den Schalthieren der urweltlichen Meere folgte nach einer neuen Revolution, welche den mittlern Flötzgebirgen das Daseyn gab, ein freieres Geschöpf. Es reißt sich los von der schweren Steinbürde, welche die Bewegung hindert, und in vielfachen Gestalten, mit vollendeten Sinnen, kreuzt das stumme Geschlecht der Fische in der wogenden Tiefe. – Später, auf noch höherer Stufe, erhebt sich eine neue Wesenclasse aus der finstern Wohnung. Als nämlich des Erdfeuers Macht den Boden des Meers über die Fluthen gehoben und Inseln und Continente erzeugt hatte, wagen Amphibien zuerst das alte Gebiet des thierischen Lebens zu verlassen, furchtbare
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/83&oldid=- (Version vom 7.2.2025)