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Seite:Meyers Universum 10. Band 1843.djvu/232

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Ansprüche zu machen. Man sieht’s ihnen an, daß der Bauherr nicht lange über den Bauplan nachgedacht hat; das Bedürfniß adoptirte ohne viele Ueberlegung das erste, beste Muster. Aus breiten Hauptstraßen blickt man häufig, wie in London, in enge, finstere Seitengäßchen hinein, wo das wenige Licht, das zwischen 5–6 Stockwerke hohe Häuser eindringt, einen schwarzen, kothigen Boden beleuchtet. In diesen Gäßchen wohnen die Handlanger des Reichthums, die Arbeiter in den Magazinen, in den Docks, auf den Werften. Aus diesen Gäßchen führen wiederum schmale Durchgänge in Sackwinkel und düstere Höfe. Da wohnt die Verworfenheit, da breitet das tiefste Menschenelend seine Lumpen aus.

Eine Bevölkerung, welche die ganze Woche hindurch arbeitet, hat wenig Zeit an Vergnügungen zu denken; Liverpool, welches 400,000 Einwohner zählt, besitzt nur ein und noch dazu ein ziemlich schlechtes Theater; die öffentlichen Promenaden sind monoton und der zoologische Garten wird mehr von den Fremden, als von den Einheimischen besucht. Das Theater ist jeden Sonntag geschlossen: nur auf den Kirchenpfaden ist dann Leben, sonst ist’s, als wenn der Tod seine Flügel über die in der Woche so geschäft- und geräuschvolle Stadt ausgebreitet habe. Desto lauter aber ist’s den Sonnabend Abends, wenn die Hunderttausend Handarbeiter und Gehülfen in den Ateliers ihre Löhne empfangen und wenn der Geschäftsherr die Mühen der Woche und die Sorge des Zahltags überstanden hat. Alle Klassen sind dann bemüht, so viel Vergnügen in wenige Stunden zusammen zu drängen als möglich, und, oft zur Uebersättigung, zu genießen. – Dem Ton in den Liverpooler Kaufmannszirkeln ist Härte und Rohheit nicht fremd. Der tägliche Umgang mit Amerikanern, der häufige Aufenthalt in den Vereinigten Staaten, hat amerikanische Sitte und Unsitte eingebürgert, und das unausgesetzte Treiben nach Gewinn, das immerwährende Kämpfen mit den Wogen des Geschäftslebens sind der Kultur des Geistes und des Herzens nicht günstig. Jene Urbanität im Umgange, jene auf Anstand basirte Freiheit, welche die Fesseln der Etikette abwirft, ohne sie zu verletzen, die Geschliffenheit der guten Gesellschaft, welche man in London, Edinburgh, Oxford etc. findet, sucht man hier vergebens. Doch fehlen die Anstalten nicht, wissenschaftliches Streben zu befördern und zu erleichtern, und daß sie da sind, zeigt wenigstens, wie man ihr Bedürfniß dunkel fühlt, wenn man auch nicht die Zeit hat, oder sich nehmen mag, es zu befriedigen. Liverpool besitzt ein Museum, eine Malerakademie und mehre gelehrte Gesellschaften, welche auch Preise vertheilen. Liverpool war der ersten Städte Englands eine, welche die aus Deutschland hinüber gewanderte Einrichtung der Kunstvereine adoptirten und jährliche Gemäldeausstellungen veranstalteten. Auf die Verbesserung des Geschmacks hat dies Alles freilich so wenig gewirkt, wie die in jedem Kaufmannshause zu findenden Bücherschränke mit goldenen Einbänden auf die Wissenschaftlichkeit. Liverpool ist aber reich, weiß, daß eine reiche Stadt dergleichen haben soll, und hat sie, wie der rohe Emporkömmling ja wohl auch am eifrigsten bestrebt ist, sein Haus mit den äußern Wahrzeichen