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Seite:Kunst und Sittlichkeit.pdf/34

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das Nackte kann das Herrlichste, kann das Abscheulichste in der Kunst sein. Jenes ist in der stilisierenden, dieses in der naturalistischen Kunst zu finden. Die Verirrungen des Realismus zu zeigen, hebe ich nunmehr den Widerspruch hervor, der, ästhetisch genommen, in den Begriffen Realismus und Nacktes liegt. Existiert doch, sozusagen, das Nackte gar nicht in der Realität unserer Zeit, da es sich außer in Badeszenen den Blicken öffentlich nirgends darbietet. Ja, in der fernen antiken Welt, da war es der agonale Mensch, der Kämpfer in den Wettspielen, aber wohlbedacht! der männliche Mensch, der die Darstellung des Nackten beförderte, ihr eine reale Bedeutung verlieh. Aber heute bedeutet das Nackte keine Realität, sondern es hat einen absolut ideellen Werth. Selbst der Realist müßte sich hier doch zum Idealismus bekennen. Der nackte Mensch gehört der Wirklichkeit nicht an. Er ist der ideale Mensch; als solcher aber ist er ein Gott oder ein erträumtes paradiesisches Naturwesen und kann daher nur typisch, nicht individuell dargestellt werden. Es ist doch unmöglich, uns weißmachen zu wollen, eine porträtierte Buhldirne sei eine Göttin.

Das ist widersinnig. Hier rühren wir an den Kern der Frage. Hier kommt das Unsittliche und Unkünstlerische der Wirkung des Naturalismus im Nackten deutlich zum Vorschein — wobei ich aber wiederhole: es giebt Unterschiede des Grades je nach der mehr oder weniger individualisierenden Behandlung, je nach der mehr oder weniger großen Schönheit des Modells und vornehmlich je nach dem höheren oder geringeren Schamgefühl des Künstlers. Hier kommt es deutlich zum Vorschein,

Empfohlene Zitierweise:
Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/34&oldid=- (Version vom 1.8.2018)