Licht. Diejenigen, welche sich auf sie berufen — was bei der grundsätzlichen Verschiedenheit der Kulturen an sich unzulässig ist — , möchte ich doch bitten, sie sich einmal gründlich anzusehen. Spielt denn bei den Griechen jenes Nackte, auf dessen Wiedergabe die Künstler unserer Zeit besonders bedacht sind, das Nackte der Frau eine solche Rolle wie bei uns? Gerade das Gegenteil. Die Frau ward bekleidet dargestellt. Nur die Göttin der Schönheit, und zwar erst in einem späteren Stadium der hellenischen Kunst, machte eine Ausnahme. Und — es wurde ihr die Ausdrucksbewegung der Scham verliehen!
Hier halte ich einen Augenblick inne. Was ist es denn, was in der modernen Kunst unsere leidenschaftliche Empörung erregt? Die Erniedrigung der Frau! Durch sie wird unser Gefühl am empfindlichsten verletzt, weil diese Entwürdigung des Weiblichen im Widerspruch steht zu dem Gehalt unserer gesamten germanischen Kultur, die von der Hochachtung der Frau, der schwärmerisch verehrenden Liebe zur Frau durchdrungen ist. In manchen Momenten, da man sich vergegenwärtigt, zu welchem Zerrbild das Weib in der Kunst geworden ist, meint man verzweifelt, unsere gesamte, hochgerichtete Kultur mit Augen zugrunde gehen zu sehen. Es ist grauenhaft und wehe dem, der das nicht empfindet! Wenn wir es so weitertreiben — ich muß es aussprechen — , dann sind wir als geistiges, als schöpferisches, als kulturbildendes Volk verloren, denn wir haben unser Bestes verleugnet, es in den Staub und Schmutz gezogen! — —
Wir kehren zu unseren Erwägungen zurück. Ich sagte:
Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/33&oldid=- (Version vom 1.8.2018)