denn das Nackte, individuell nach der Natur wiederzugeben, anstatt das Modell, wie unumgänglich, nur zum Ausgangspunkt der typischen Bildung zu nehmen, was heißt denn das? Das heißt: nackte Porträts malen. Und wer giebt sich für solche Porträts her? Doch nur — sehen wir von den professionellen Modellen hier ab — solche Geschöpfe, in denen wir die Würde des Menschlichen entweiht sehen. Können wir uns darüber wundern, wenn eine solche naturalistische Kunst uns das Nackte nur in der Gestalt von Buhldirnen, welchem Kreise sie auch immer angehören mögen, zeigt? Wenn irgendwo, so tritt uns also die Verirrung des Realismus, die Verwechslung von bloßen Studien mit Kunstwerken in der Darstellung des Nackten entgegen. Nicht allein die perverse Tendenz, sondern auch die naturalistische Auffassung in der Kunst hat die Entwürdigung vor Allem der Frau, aber auch des Mannes, hat das Schamlose mit sich gebracht. So viel darf und muß allgemein gesagt werden. Über den Einzelfall zu entscheiden, das vermag nur ein gesundes ästhetisches Gefühl, eine Definition in Worten bleibt unmöglich.
Indem ich so das Gegenständliche und die Darstellungsweise einer Prüfung unterzogen, indem ich auf Beides die Grundsätze anwandte, nach denen Alles, was Ekel und Begierde erweckt, und Alles, was nicht zum Typischen erhoben wird, gegen das Wesen der Kunst verstößt, erachte ich meinen Satz, daß es dem Gegenstande und der Darstellungsweise nach Unsittliches giebt, das mit wahrer Kunst unvereinbar ist, für bewiesen. Es verhält sich gerade umgekehrt,
Henry Thode: Kunst und Sittlichkeit. Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1906, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Sittlichkeit.pdf/35&oldid=- (Version vom 1.8.2018)