— und doch ist es nicht so. Nur nahe verwandt sind die beiden erlösenden Mächte, denn sie beide führen in ein Reich, das über diesem Leben steht, und sie beide begründen eine ideelle Gemeinsamkeit, — und wunderbar, sie scheinen sich in ihrer Aufgabe einander abzulösen. Aus der Religion erwächst die Kunst, und wenn die Glaubenskraft erlahmt, tritt an ihre Stelle die Kraft des Schauens, wo immer einem Volke diese vergönnt ist. Wir stehen in einer geheimnisvollen Zeit: aus der seelischen Bewegung des Protestantismus Luthers ist unsere Weltanschauung Kants und Schopenhauers hervorgegangen, das uralte arische Erbtum seit den Tagen indischer Weisheit ward durch sie als Neues uns eigen, und aus dem Protestantismus erwuchs unsere Dichterherrlichkeit, unsere Musik bis zur vollendeten Freiheit. Alles ward uns gegeben, wir erleben es. Und es konnte scheinen, als bedürfe es des Glaubens und der Religion nun nicht mehr. Und doch, nun Philosophie und Kunst ihr höchstes Wort gesprochen haben, zeigt es sich wieder wie ein sehnsüchtiges Ahnen und Suchen eines vertieften und vereinfachten Christentums; in allen Fibern des Gefühlslebens empfinden wir es, gewahren es auf allen Gebieten geistiger Arbeit. Noch erscheint das Große in der Zukunft verhüllt, noch möchte man nicht wagen, von diesen zarten Regungen laut zu sprechen. Die Wege, die bisher eingeschlagen wurden, lassen uns nur die Richtung erkennen, in welcher das Neue, Ersehnte liegt, sie führen nicht zu ihm hin. Wie und wann und ob es erscheinen wird, ist nicht voraus zu verkünden, wir dürfen nur das Eine sagen: die
Henry Thode: Kunst, Religion und Kultur. Carl Winter’s Uinversitätsbuchhandlung, Heidelberg 1901, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst,_Religion_und_Kultur.pdf/18&oldid=- (Version vom 1.8.2018)