Gefühles finden, wie in ihr eine Quelle der Gemeinsamkeit entdecken? — bringt sie in ihrer Willkür doch im Gegenteil die Verwirrung der Meinungen und den verderblichen Wahn mit sich, die Kunst sei nur ein Spiel, bestimmt zur Zerstreuung statt zur Sammlung, zur Kritik statt zur Hingebung, zur Selbstbetonung statt zur Selbstentäußerung.
Von anderer Seite her, von der wahrhaft großen Kunst vergangener Zeit, der Antike, des Mittelalters, der Renaissance müssen wir die Hilfe suchen. Sie wird uns zur Ergänzung unserer deutschen Musik und Dichtung, denn sie lehrt das selbe. Unserem Sehnen kommt sie entgegen, ewig wirkend und ewig gültig, wie alle vollkommene Schöpfung menschlichen Geistes, und nimmer alternd in der Kraft, uns über die Not dieses schmerzenreichen Daseins zu erheben. — Wenn wir sie in uns lebendig werden lassen! Und das ja ist es, worin Ihnen behilflich zu sein meine hohe Aufgabe ist, durch alles Historische hindurch Ihnen immer von Neuem das Wunder zu erschließen, wie inneres Erleben zur äußerlich sichtbaren Gestalt wird, wie Wesen und Erscheinung ineinander aufgehen, wie alles große Bilden ein Bekenntnis der Seele von ihrer Liebe und ihrem Glauben ist, wie im Bildwerk alles Natürliche durch die Seele gereinigt und heilig gesprochen wird, wie das Schaffen eine Liebeswerbung ist, wie es aus dem unwiderstehlichen Drange, die Menschen innerlich zu verbinden, hervorgeht — aus der Tiefe hervor!
Dann aber wäre Kunst Religion? Wer es behauptete, würde wohl von der Wahrheit sich nicht allzusehr entfernen
Henry Thode: Kunst, Religion und Kultur. Carl Winter’s Uinversitätsbuchhandlung, Heidelberg 1901, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst,_Religion_und_Kultur.pdf/17&oldid=- (Version vom 1.8.2018)