Sprache der Musik, den hellen dichterischen Ideen zuführte, den Abgrund der Urgemeinsamkeit von Denken und Fühlen enthüllte und in der lebendigen Gestalt des Dramas ewiges Gesetz und Notwendigkeit menschlichen Wollens und Handelns offenbarte. Hier ist die Kunst, eine größte Kunst, die uns zur Führerin vor allem Anderen bestimmt ward.
Aber die bildende Kunst, sie, deren Betrachtung mir zur Lebens- und zur Lehraufgabe wurde? Wir dürfen es uns nicht verhehlen: das bildnerische Schaffen des XIX. Jahrhunderts wurzelt nicht in der Tiefe, sondern schwebt an der Oberfläche, es ging nicht aus der Notwendigkeit des Volkslebens und allgemeiner Kulturideen hervor, wie unsere Musik und Dichtung des germanischen Protestantismus, wie die Bildnerei der Griechen, der Renaissance, sondern sie ist eine Erscheinung des Luxus. Daher auch an ihr nichts Sicheres, Festes, in sich Gegründetes ist; es fehlt ihr eben jene Beschränkung, welche die Konzentration und damit die Freiheit in der Gesetzmäßigkeit mit sich bringt. Die beständig wechselnden Theorien und Prinzipien verraten ihre Haltlosigkeit. Wohl zeigt sich vereinzeltes echt künstlerisches Schaffen, ja in Einem vor Allen, der unserer Zeit geschenkt ward, in Hans Thoma[WS 1], gewann deutsches Gemüt und deutsche Phantasie von Neuem einen universalen Ausdruck — aber gerade das abgesonderte Schaffen solcher wahren Künstler läßt uns den Mangel jeglicher Einheitlichkeit und natürlichen Notwendigkeit in der bildnerischen Bethätigung um so deutlicher erkennen. Wie also könnten wir in ihr ein Bestehendes, einen sicheren Grund, eine ideelle Bestimmung unseres
- ↑ Hans Thoma, deutscher Maler und Graphiker (1839-1924).
Henry Thode: Kunst, Religion und Kultur. Carl Winter’s Uinversitätsbuchhandlung, Heidelberg 1901, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst,_Religion_und_Kultur.pdf/16&oldid=- (Version vom 1.8.2018)