entgegentrat, kann leicht als unberechtigte Freigebigkeit gescholten werden; aber ich weiß ganz bestimmt, die allerschärfste Kritik, die geübt werden wird, wird nicht an die Schärfe der Selbstkritik heranreichen. Da bin ich gefeit, daß alles, was gesagt werden wird, nicht an den Schreck heranreicht, den ich selber angesichts der Ewigkeit und eingedenk der Verschuldung empfinde. Aber ich möchte doch recht dabei stehen bleiben, damit ich noch für die Größe der Frage Raum gewinne. Neuendettelsau soll eine Oase, soll ein Ort bleiben, da man sich ausklagen kann, nicht bloß mit all den erträumten, erdichteten Sündennöten, nicht bloß mit der breiten, anspruchsvollen Fülle einer immer sich wiederholenden und nie ernst bereuten Sündhaftigkeit, denn diese Art von Seelsorge würde ich für den Tod der Sache halten. Wir sind nicht Diener sündiger Launen, sondern dazu da, daß es in Neuendettelsau für all das Leid der Landeskirche, das nicht kleiner sondern größer werden wird, ein offenes Ohr gibt, und ich wende mich an die vielen Schwestern, die hier sind, ich bitte sie herzlich, haltet Herz und Ohr für die vielen, vielen Klagen und Nöte offen. Man gibt ein Weniges, das sich reich verzinst. Trachtet nicht nach hohen Dingen – wir machen keine Kirchenpolitik und machen keine kirchlichen Gesetze – sondern haltet euch herunter zu den Niedrigen. Durch fortgesetzte Pflege der kleinen Dinge erreicht man den Mut zum Großen und durch die Hingabe seines Herzens an eine arme Kirche wird man gesegnet. Ich sage eine arme Kirche. Ich wüßte im ganzen Deutschen Reich keine Kirche, die so von allen Feinden, von dem Romanismus und dem Indifferentismus und dem Modernismus und dem Centralismus gequält ist wie die unsere. Wir haben ja mit unserem Volk die Fühlung verloren. Es wird ein oft kaum mehr verhohlenes Mißtrauen dem Amtsträger entgegen gebracht, und ich klage oft die von außen her importierte Gemeinschaftssache an, daß sie den Rest von Vertrauen aus den Herzen unseres armen Landvolkes reißt, um mit vielleicht Willkürlichkeiten und exotischen Christusempfindungen das Volk zu erfüllen. Ich stehe der Gemeinschaft wahrhaftig dankbar gegenüber, wie ich jedem dankbar bin, der es ernst mit Jesus meint, und von jedem lernen will, wie ich es weit ernster nehmen soll. Aber ich glaube, daß der Gott des vierten Gebotes es heimsuchen wird, wenn man die Grundbegriffe des vierten Gebotes zerstört, über dem doch auch steht: „nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen.“ Es ist mir unbegreiflich, wie jene, deren ernste Frömmigkeit ich nicht anzutasten wage, weil die meine nicht an sie heranreicht, es über sich gewinnen können, in den Gemeinden
Hermann von Bezzel: Einsegnungs-Unterricht 1909. , Neuendettelsau 1910, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Einsegnungs-Unterricht_1909.pdf/113&oldid=- (Version vom 1.8.2018)