Sie erinnern sich vielleicht, meine Herren, jener Sitzung des Abgeordnetenhauses, in der der Abgeordnete Rickert vorlas, daß eine Zeitung geschrieben habe: „Es liegt ein Ritualmord vor, Buschhoff und kein anderer ist der Mörder.“ Wenn man erwägt, wie alle Bemühungen der Behörden, den Schuldigen zu ermitteln, durch das Blutmärchen getrübt worden sind, dann muß man die Ueberzeugung gewinnen, daß System in dieser Hetze liegt. Die Leute haben gar kein Interesse, daß der wirklich Schuldige ermittelt werde, die That an sich war ihnen aber ein willkommenes Agitationsmittel. Es ist hier nicht meine Aufgabe, eine Rede gegen das Treiben der Antisemiten zu halten. Wenn die Leute es als ihre Aufgabe betrachten, dahin zu wirken, daß die Juden aus Deutschland getrieben und die Zeiten des Augustus wieder herbeigeführt werden, habeat sibi. Meine Aufgabe als Kriminal-Vertheidiger ist eine ganz andere. Allein erwägen Sie, meine Herren, wenn es dem Buschhoff nicht gelungen wäre, in so überzeugender Weise sein Alibi nachzuweisen, was hätte dann diese Hetze zur Folge haben können. Ich wende mich nun zu dem eigentlichen Thatbestande. Ich kann mich dabei kurz fassen, da die Herren Vertreter der Anklagebehörde diesen fast erschöpfend beleuchtet haben. Ich will daher nicht noch einmal auf den Alibibeweis des Buschhoff zurückkommen. Jedenfalls halte ich es für sehr vortheilhaft, daß wir uns gestern den Thatort angesehen haben, wir haben dadurch eigentlich erst ein anschauliches Bild erhalten. Ich vermisse die Aufklärung, aus welchem Grunde die Dienstmagd Dora Moll am Abende einige Schritte weiter in der Scheune gegangen ist, als sie nothwendig hatte. Wenn die Moll, wie immer, nur bis zum Strohlager gegangen wäre, dann hätte sie den Leichnam nicht sehen können.
Präsident (den Vertheidiger unterbrechend): Sie werden sich erinnern, Herr Rechtsanwalt, daß die Moll uns sagte: sie sei deshalb näher getreten, da sie die Leiche für Hühner gehalten, die in der Spreu saßen.
Vertheidiger Rechtsanwalt Stapper (fortfahrend): Das ist mir bekannt, Herr Präsident. Allein fest steht, daß sie ohne einige Schritte weiter zu gehen, auch die etwa dort sitzenden Hühner nicht hätte sehen können. Meine Herren! Es ist eine alte kriminalistische Regel, daß, wenn die Schuldfrage zweifelhaft erscheint, die Frage aufgeworfen wird: Kann man dem Angeklagten die That zutrauen?
Hugo Friedländer: Der Knabenmord in Xanten vor dem Schwurgericht zu Cleve vom 4. bis 14. Juli 1892. W. Startz, 1892 Cleve, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Der_Knabenmord_in_Xanten_(1892).djvu/138&oldid=- (Version vom 1.8.2018)