Meine Herren Geschworenen! Wenn Sie, woran ich nicht zweifle, in diesem Sinne Ihr Amt auffassen[WS 1], dann kann Ihr Urtheil nur auf Nichtschuldig lauten.
Dieser Tag wird ein Ehrentag für Sie sein, denn Sie geben einem anständigen, schwer geprüften Manne die Freiheit, einer Familie den Gatten und Vater, einer Gemeinde ein Mitglied wieder, das bisher in der unerhörtesten Weise dem Haß und der Verfolgung eines urtheilslosen Pöbels ausgesetzt war. Sofort als die That entdeckt wurde, da stand es bei der Menge fest: es müsse ein Ritualmord geschehen sein. Das alte, mittelalterliche Märchen, das man schon längst begraben glaubte, war wieder aufgetaucht. Die Hauptursache war, daß Dr. Steiner feststellte, daß kein Blut oder zu wenig Blut bei der Leiche gefunden wurde. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich das Blutmärchen durch ganz Deutschland und wurde von Herrn Dr. van Housen sofort nach Emmerich getragen. Sie erinnern sich, meine Herren Geschworenen, daß Herr Dr. van Housen erst, nachdem er die Obduktionsbefunde hier eingesehen, die Erklärung abgegeben hat: Nun habe ich mich überzeugt; ich halte auch den Fundort für den Thatort; ich habe zur Zeit mein Urtheil auf Grund oberflächlicher Besichtigung abgegeben. Es ist ja noch ein anderes Motiv für den Mord angegeben worden. Sie erinnern sich, daß Herr Kriminal-Kommissar Wolff der Meinung gewesen ist: Buschhoff habe den Knaben getödtet, weil er ihm den kleinen Schaden am Grabstein zugefügt habe. Eine solche Annahme kann wohl die Phantasie eines Dichters sein, der einen Kriminalroman zu schreiben beabsichtigt, der Richter kann aber eine solche Vermuthung nie und nimmer für wahr halten. Ich muß ausdrücklich bemerken, m. H., daß gleich nach Entdeckung der That die Behörden sich alle Mühe gegeben haben, den Thäter zu ermitteln. Herr Landgerichtsrath Brixius hat ebenfalls, das beweisen die vielen von ihm vorgenommenen Vernehmungen, alles Mögliche gethan, um Klarheit zu schaffen. Wäre der Mord nicht sofort zum Objekt einer Glaubenshetze gemacht worden, wer weiß, ob es nicht gelungen wäre, schon nach den ersten 8–14 Tagen den Mörder zu entdecken. Sie werden sich erinnern, meine Herren Geschworenen, daß in einer geradezu unerhörten, bisher noch nicht dagewesenen Weise die Gerichtsbehörden aus Anlaß dieses Verbrechens angegriffen worden sind.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: auffasse
Hugo Friedländer: Der Knabenmord in Xanten vor dem Schwurgericht zu Cleve vom 4. bis 14. Juli 1892. W. Startz, 1892 Cleve, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Der_Knabenmord_in_Xanten_(1892).djvu/137&oldid=- (Version vom 31.7.2018)