„Ich bin verloren,“ schrie der Mann mit den stahlgrauen Haaren ihnen zu, und warf die Muskete in einen Winkel, seine eigne Person aber erschöpft und ermattet in den Lehnstuhl, und wischte den Angstschweiß von der Stirne. „Ich werde am Galgen sterben - habe einen erstochen! - Leb wohl, liebes - Weib, - liebe Tochter - leb - leb wohl! Hier hast du meinen Segen. – Lebt wohl! – Hört! hört! schon kommen sie und führen mich ins Gefängniß; ich sterbe am“ - da leuchtete plötzlich, des blassen Männlein Schluchzen unterbrechend, ein heller Blitz, und krachend entlud sich die Muskete im Winkel. Das Töchterlein fiel in Ohnmacht, die Frau verlor die Sprache, der kleine Mann sank starr und steif zu Boden, und rührte sich nicht mehr; die Studenten ließen den Poeten, und rannten die Stiege herab mit Licht, der Meinung, das Schneiderlein habe sich in seiner Tollheit ein Leid zugefügt, und als sie ihn auf dem Boden liegend fanden, glaubten sie ihrer Sache gewiß zu sein. Aus allen Thüren und Gängen des Hauses eilten die Bewohner heraus, halb oder gar nicht angekleidet, mit Licht in den Händen und fragten mit furchtsamen Mienen, was geschehen sei, ohne daß Jemand Aufschluß geben konnte. Nach und nach sammelte sich eine Menge im Zimmer des Schneiders, den man mit vieler Anstrengung ins Leben zurückrief. Als er die vielen Leute um sich her gewahrte, glaubte er sein Stündlein wäre gekommen, und nahm nochmal Abschied von Weib und Kind, obgleich er diese nirgends sah in dem Gedränge, und bot seine Hände den Fesseln dar, also sprechend: „ich habe den Tod verdient, und mit Recht; wer mordet, soll umkommen durch das Schwert“
Dieses bestätigte noch mehr die neugierigen Zuschauer in der Meinung, daß der kleine blasse Mann mit den stahlgrauen Haaren im blauen Biberkittel plötzlich toll geworden sein müsse; zwar meinten sie, daß man schon früher Symptome an ihm bemerkt habe, als ob es nicht ganz richtig mit ihm sein müsse, und bedauerten den Unglücklichen und seine Familie gar sehr. Der Hauseigenthümer aber erklärte der Frau des Schneiderleins, daß bei solchen Umständen ihres Bleibens nimmer in seinem Hause sein könne; sie möge deßhalb so bald wie möglich sein Haus räumen, um nicht durch die Tollheit ihres Mannes das Leben der Inwohnenden zu gefährden; dabei bedauerte er gar sehr solche ordentliche Miethleute zu verlieren.
Also ging es dem Männlein im Biberkittel wie es dem Freunde der Musen geht, wollen mir hier in Kürze vernehmen. Die Studenten hegten und pflegten den verwundeten Dichter einige Tage auf ihrem Zimmer nach ihrer Weise, schleppten den armen Teufel mit in ihre Kneipe, und verloren ihn endlich bei einen anderweitigen fidelen Streiche, wo er den Polizeimännern in die Hände fiel, und manchen Tag in seinem Käficht saß, und sich nach den Fleischtöpfen Aegyptens, das ist, nach den Gastereien und Zechgelagen der freigebigen Herrn, oft zurücksehnte. Von seinen ferneren Schicksalen wollen wir später unsern freundlichen Lesern Bericht erstatten, sobald wir vernommen haben, daß der Held unserer Erzählung mit sammt seinem Unglücksstern ihre Theilnahme erregt habe.
Kaspar Braun, Friedrich Schneider (Red.): Fliegende Blätter (Band 2). Braun & Schneider, München 1846, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Fliegende_Bl%C3%A4tter_2.djvu/143&oldid=- (Version vom 26.10.2021)