Anonym: Edda | |
|
das Band Gleipnir verfertigen. Dieß war aus sechserlei Dingen gemacht: aus dem Schall des Katzentritts, dem Bart der Weiber, den Wurzeln der Berge, den Sehnen der Bären, der Stimme der Fische und dem Speichel der Vögel. Hast du auch diese Geschichte nie gehört, so magst du doch bald befinden, daß sie wahr ist und wir dir nicht lügen, denn da du wohl bemerkt hast, daß die Frauen keinen Bart, die Berge keine Wurzeln haben und der Katzentritt keinen Schall giebt, so magst du mir wohl glauben, daß das Übrige eben so wahr ist, was ich dir gesagt habe, wenn du auch von einigen dieser Dinge keine Erfahrung hast. Da sprach Gangleri: An den Dingen, die du zum Beispiel anführst, kann ich allerdings die Wahrheit erkennen; aber wie war das Band beschaffen? Har antwortete: Das kann ich dir wohl sagen: das Band war schlicht und weich wie ein Seidenband und so stark und fest wie du sogleich hören sollst. Als das Band den Asen gebracht wurde, dankten sie dem Boten für das wohl verrichtete Geschäft und fuhren dann auf die Insel Lyngwi im See Amswartnir, riefen den Wolf herbei, zeigten ihm das Seidenband und baten ihn es zu zerreißen. Sie sagten, es wäre wohl etwas stärker als es nach seiner Dicke das Aussehen habe. Sie gaben es Einer dem Andern und versuchten ihre Stärke daran, allein es riß nicht. Doch sagten sie, der Wolf werde es wohl zerreißen mögen. Der Wolf antwortete: Um dieses Band dünkt es mich so als wenn ich wenig Ehre damit einlegen möchte, wenn ich auch eine so schwache Feßel entzweireiße; falls es aber mit List und Betrug gemacht ist, obgleich es so schwach scheint, so kommt es nicht an meine Füße. Da sagten die Asen, er möge leicht ein dünnes Seidenband zerreißen, da er zuvor die schweren Eisenfeßeln zerbrochen habe. Wenn du aber dieses Band nicht zerreißen kannst, so haben die Götter sich nicht vor dir zu fürchten und wir werden dich dann lösen. Der Wolf antwortete: Wenn ihr mich so fest bindet, daß ich mich selbst nicht lösen kann, so spottet ihr mein und es wird mir spät werden, Hülfe von euch zu erlangen: darum bin ich nicht gesonnen mir dieß Band anlegen zu laßen. Eh ihr mich aber der Feigheit zeiht, so lege Einer von euch seine Hand in meinen Mund zum Unterpfand, daß es ohne Falsch hergeht. Da sah ein Ase den Andern an, die Gefahr dauchte sie doppelt groß und Keiner wollte seine Hand herleihen bis Tyr zuletzt seine Rechte darbot und sie dem Wolfe in den Mund legte. Und da der Wolf sich reckte, da erhärtete das Band und je mehr er sich anstrengte, desto stärker ward es. Da lachten alle außer Tyr, denn er verlor seine Hand. Als die Asen sahen, daß der Wolf völlig gebunden sei, nahmen sie den Strick am Ende der Kette, der Gelgia hieß,
Karl Simrock (Hrsg.): Die Edda, die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, 6. Aufl., Stuttgart 1876, Seite 269. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Edda_(1876).djvu/277&oldid=- (Version vom 31.7.2018)