daß mir bis jetzt von diesem Ritualmord-Falle in der nächsten Nähe noch nicht das mindeste bekannt geworden war. Ich gab mir selbstverständlich sofort Mühe, die näheren Umstände desselben zu erfahren, vielleicht einen der liegengebliebenen, mit Blut gefüllten Federkiele zu erlangen. Ich wurde aber gewaltig enttäuscht. Dem zuständigen Amtsgerichte in Königshofen ist von diesem Falle nichts bekannt geworden; ich schrieb an den H. Pfarrer in Alsleben, zu dessen Pfarrei die ganz nahe auf einem Berge liegende Wallfahrtskapelle St. Ursula gehört (Trapstadt liegt etwa sechs Kilometer entfernt), und bat ihn um Mitteilung, ob vielleicht im Pfarrei- oder Gemeindearchiv Schriftstücke aufbewahrt seien, die nähere Auskunft geben könnten, worauf ich folgende Antwort erhielt: „In betreff des angeblichen jüdischen Ritualmords, der nach einem Artikel der Berliner Staatsbürger-Zeitung vom 31. Juli 1901 in der Nähe der zur hiesigen Pfarrei gehörigen St. Ursula-Kapelle stattgefunden haben soll, habe ich (Ihrem Wunsche gemäß) bei mehreren älteren Männern der Pfarrgemeinde mich eingehend erkundigt, konnte aber nirgends einen Anhaltspunkt gewinnen, aus dem man schließen könnte, daß ein Ritualmord an dem bezeichneten oder einem anderen Orte in der Gegend zur benannten Zeit oder vorher oder nachher stattgefunden habe. Unter anderem zog ich Erkundigungen ein bei dem hiesigen Buchbinder und Heiligenmeister Melchior Rast, der, jetzt etwa sechzig Jahre alt, in jüngeren Jahren aus verschiedenen Urkunden (aus dem Pfarrei- und Gemeindearchive und sonstigen ihm zugängigen Quellen) eine kleine Chronik vom Pfarrort Alsleben und speciell auch von der St. Ursula-Kapelle verfaßt hat. Ich fragte ihn, ob er nicht etwa auch gehört habe, daß in früheren Zeiten einmal in der Pfarrei ein Ritualmord vorgekommen sei. Er erklärte, noch niemals etwas von einem solchen Morde gehört zu haben. Ich fragte dann einen älteren Mann, Namens Johann Georg Neugebauer, der im Jahre 1822 geboren ist und demnach in dem Jahre, in welchem der benannte Mord vorgekommen sein soll, zehn Jahre alt war, der also ganz gut eines von den hiesigen Kindern hätte sein können, welche (nach Angabe des Artikels) die Juden überraschten und in die Flucht jagten. Neugebauer konnte mir aber ebensowenig von einem in früherer Zeit hier stattgehabten Ritualmord etwas berichten. Er meinte dabei: Von dem Platze, wo der Knabe
Friedrich Frank: Nachträge zu „Der Ritualmord vor den Gerichtshöfen der Wahrheit und Gerechtigkeit“. Verlagsanstalt vorm. G. J. Manz Buch- und Kunstdruckerei A.-G. München-Regensburg, Regensburg 1902, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Ritualmord_vor_den_Gerichtsh%C3%B6fen_(1902).djvu/66&oldid=- (Version vom 31.7.2018)