ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass sich eine noch weitere faktische Differenzierung der betreffenden Empfindungssphäre an uns vollziehen kann. Hieraus aber folgt, dass auf jedem Sinnesgebiete die Empfänglichkeit für quantitative Steigerung der Reize zugleich mit der Fähigkeit der Wahrnehmung für neue qualitative Unterschiede anwachsen muss …
Es ist eine praktisch oft erprobte Erfahrung, dass das selbe Individuum für die feinsten Unterschiede eines Sinnesgebiets zwar „empfindlich“ ist, dennoch aber der gröbsten Anstösse bedarf, um diese feinsten objektiven Unterschiede zu bemerken. – Daher kann ohne Widerspruch geschehen, dass die feinste psychische „Reizbarkeit“ mit der schlimmsten objektiven Vergröberung der Reize, dass z. B. der zarteste Farbensinn mit dem rohesten Farbenmissbrauch, oder das feinste Gehör mit dem schrecklichsten Gelärme zusammengeht und sich gar wohl verträgt. – Gleichwie ein Gourmet, der nur noch in den seltensten Anreizen der Zunge einen neuen Genuss findet, sich schliesslich gerade zu den allerprimitivsten Genüssen bekehrt, so geht auch im Gebiete höherer Sinnlichkeit, Verinnerlichung des Empfindens und Roheit der faktischen Empfindungsausdrücke sehr oft zusammen. Wenn ich ein Beispiel aus einer nur scheinbar entlegenen Sphäre heranziehen darf, so möchte ich auf die Entwickelung unseres Theaterwesens hinweisen. Roheit und Feinheit, wüster Sensations- und Kolportagestil einerseits und fast krankhaft geistige Finesse andererseits sehen wir auf unsern Theatern immer gemeinsam auftauchen. Es erscheint gerade so, als wenn unsere Nervensysteme zugleich stumpf und hypererethisch geworden seien. Sie sind zwar empfänglich für die leisesten Anreize, und leiseste Anstösse genügen schon, um starke Wirkungen auszulösen, aber sie bedürfen zugleich starker „Anlässe“, damit diese überfeinerte Wahrnehmungsfähigkeit de facto in Kraft trete …
Dieser subtile Zusammenhang kehrt nun auch in der Geschichte des Lärmes wieder. Wir sind zugleich entsetzlich laut und entsetzlich musikalisch geworden. – Wenn (nach Schopenhauers Angabe) Thomas Hood von den Deutschen sagte for a musical people, they are the most noisy I ever met with, so steht wohl eine ganz unrichtige Beobachtung dahinter. Denn Stumpfheit gegen Lärm und Empfänglichkeit für Musik, grosse Lärmhaftigkeit des Volkslebens und qualitative Verfeinerung des Gehörs bilden durchaus keinen konträren Gegensatz. Vielleicht sind die
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/33&oldid=- (Version vom 31.7.2018)