er sich wieder gewöhnen soll an das Gerassel der Bäckerkarren und Fleischerwagen, welche in der Frühe um die Wette toben, an das Gepolter und Geläute der Lastwagen, der Pferdebahnen, der elektrischen Bahnen, welche ihnen bald folgen, an das Getöse der Strassenreinigungsmaschine, die in tiefer Nacht die anderen Lärmmaschinen ablöst und donnernd das Haus des müden Bürgers umkreist, an all die anderen fürchterlichen Töne, mit welchen die Stadtbahn, der Güterbahnhof, nachbarliche Akkumulatoren usw. ruhelos zu allen Stunden der Nacht das Wort des Dichters verhöhnen: „Ringsum ruhet die Stadt, still wird die erleuchtete Gasse.“ Freilich gewöhnt man sich wieder daran, wie man sich an Gift gewöhnt, das heimlich die Gesundheit untergräbt und nicht mehr für ein Gift gehalten wird, bis der plötzliche Zusammenbruch der Kräfte es schrecklich lehrt. Für einen gesunden, nervenstarken Erwachsenen mögen ein paar Ferienwochen alljährlich genügen, die schädlichen Wirkungen des Stadtgetöses auszugleichen. An einem Kinde, das seit den ersten Tagen der zartesten Jugend in Wochen und im Schlafe von der „erfreulichen Stimme der Kultur“ verfolgt wird, gehen die Wirkungen nicht schadlos vorüber. Die grössere Häufigkeit der Gehirnentzündungen, der schwerere Verlauf der Fieberkrankheiten in den Städten ist nur eine auffallendere, nicht die schwerste und allgemeinste Wirkung des Stadtlärmes.“
Wenngleich man sich vorzustellen vermag, dass ein Lebewesen auch mit anderen als den uns bekannten Sinnesorganen sich eine „Welt” aufbauen und lebend in ihr orientieren könne und dass somit nur „Zufall” ist, wenn wir uns mit Auge und Ohr und nicht durch irgendwelche andere unfassliche, uns unbekannte Sinne verständigen, so obwaltet doch in Entwickelung, Höhersteigerung und gegenseitigem Verhältnis der gegebenen Sinne die sicherste Notwendigkeit. Es scheint mir hierbei ausser Frage zu sein, dass die Verfeinerung des menschlichen Gehörs einer komplizierten, entwickelungsgeschichtlich späteren Stufe zukommt, als selbst die differenzierteste Empfänglichkeit für Phänomene des Lichtes und der Farbe. Die „Welt“ des Ohrs ist die reichste und subtilste! Die Erlebnisse des Ohrs sind zarter, mannigfaltiger und intensiver als alles, was durch das Auge erlebt werden kann. – Hiermit aber hängt auch der Umstand zusammen, dass das Gesicht ein weit trägerer, jüngerer und weniger eingeschliffener Sinn, als das Gehör ist und dass Reaktionen auf Schallreize schneller und prompter, als Reaktionen auf Licht- und Farbenreize zu erfolgen pflegen. Es besteht die merkwürdige Relation, dass je subtiler und je reicher gegliedert eine Klasse von Empfindungen zu sein pflegt, um so stärker auch die „Empfindlichkeit“ für eben dieses Bereich von Empfindungen sich entwickeln muss. Dies nämlich
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ ein mit ”1.” bezeichneter Abschnitt ist nicht vorhanden.
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/32&oldid=- (Version vom 31.7.2018)