feinsten musikalischen Ohren in Stadtvierteln zu Hause, vor deren Getöse ein unmusikalischer Kannibale die Flucht ergreifen würde. Der „Naturmensch“, der ein weit undisziplinierteres und gröberes Gehör besitzt, ist zugleich für Gehörseindrücke aufmerksamer und bewusster als der Kulturmensch. Umgekehrt scheint das selbe Individuum zu einer extremen Lautheit des äusseren Lebens zu neigen, das doch zugleich für die geistigsten Intervalle der Musik und für die zartesten Naturgeräusche, (wie Rauschen im reifen Korn, Rieseln des Regens auf Gebüsch und Sand, Knistern aufbrechender Knospen oder Rascheln fallender Blätter) tief empfänglich ist. Dieser moderne Mensch scheint so „nervös” zu sein, dass ihn nur das ganz zarte oder das ganz laute Geräusch zu fesseln vermag. Nur Sinneseindrücke auf sozusagen mittlerer Linie übergeht er in gewohnheit-gewordener Stumpfheit …
Auf dieses merkwürdige Beieinander von Feinheit und Lautheit deutet vor allem die Entwickelung der modernen Musik hin! Ist es nicht geradezu ungeheuerlich, wenn auf einem internationalen Musikfest zu Boston unlängst 20000 Solisten beiderlei Geschlechts, 2000 Mann Orchester und mehrere hundert Dampforgeln mitgewirkt haben? – Und wenn ich in der Zeitung des heutigen Tages lese, dass Kaiser Wilhelm gestern abend zunächst ein Kanonenstück von Wildenbruch und danach „Wer hat Dich Du schöner Wald” aus 1200 sangesfreudigen deutschen Männerkehlen genossen hat, heute früh aber bereits wieder durch den „Huldigungsmarsch von Schultze ausgeführt von sämtlichen Kapellen der Garnison” geweckt worden ist, dann erfasst mich halbwegs staunende Bewunderung für solchen Nervenapparat, halbwegs ein grosses Mitgefühl. – Und hat nicht endlich das Opernwesen seit Richard Wagner eine „Dynamik“ erreicht, die an die Reaktionsfähigkeit des kultivierten Ohres scheinbar nicht mehr zu überbietende Ansprüche stellt? – Dennoch ist diese Entwickelung zur Lautheit mit einer entschiedenen Verfeinerung des Gehöres zusammen gegangen!
Man liest oft die Behauptung, dass das „Tier“ (insbesondere Katze und Dammwild) ein „feineres Ohr als der Mensch besitze“. Das ist vollkommen unrichtig. Wir kennen kein Lebewesen, dessen Gehörapparat so fein und kompliziert wie der menschliche wäre. Wohl aber bemerken wir bei vielen Tierarten eine grössere Empfänglichkeit für Geräusche, weil ihre „Aufmerksamkeit“ noch einseitig auf Schallwahrnehmungen eingestellt ist. Ein grosser Teil der Tierwelt ist gezwungen, um seiner Nahrung
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/34&oldid=- (Version vom 31.7.2018)