wie Störe, Kaninchen oder Bandwürmer, allüberall Geschrei und Gelärm, das die Unschuld der schönen Landschaft entweiht! Wo vor einigen Jahren noch der schlafende Pan dich schützte, die Luft vor Schweigen und Stille zu zittern schien und nichts zu erlauschen war als Grille und Biene und wo nur, wenn der Wind den Klang verwehte, ein bescheiden Glöcklein weidenden Viehs oder des Hirtenbubs beschauliche Flöte herübertönte, aus weiter Ferne, – da stellt heute der Berliner Hotelier für ein internationales Publikum den neuesten Phonographen auf, damit für zehn Heller jedes Kind aus Frankfurt oder Liverpool den „Einzug in die Wartburg” höre. Man kann nächstens auf der Jungfrau belauschen, wie „Herr Caruso in New York” den „Hymnus an die Einsamkeit” in den Phonographen singt. Man wird jede bescheidene Trift mit Pensionshäusern und Villen übersäen. In jeder dieser „Villen” wird sich alsbald ein Klavier und eine müssige Dame aus Leipzig zusammenfinden. Auf den sogenannten Villen prangen schöngemalte Namen wie, „Waldeszauber“, „Bergfried”, „Alpenrose”, „Tiefeinsamkeit” und „Käthchens Ruh”. Man malt auch ganze Sprüche darauf, wie etwa „my house, my castle” oder „Trautes Heim, Glück allein”. Und diesen Inschriften entsprechen die Pensionspreise. Man kündet durch Inserate, dass man ein Eldorado an Frieden und Glück zu vergeben habe. Und wahrhaftig, auch der Augenblick ist nicht fern, wo der letzte südamerikanische Urwald mit dem Ton der Dampfpfeife und des elektrischen Läutwerks durchzogen wird. Und wohin dann der „Fortschritt” und der „gebildete Europäer” kommt, da wird es „Lärm setzen”. Ja, es scheint der Lärm das tiefste Charakteristikum des Menschen schlechthin zu sein. Denn das erste, was ein „Mensch” unternimmt, sobald er ins Leben tritt, ist, dass er zu schreien beginnt. Dieser Schrei ist das spezifische, anthropologische Moment, durch das er sich von der Niederung des sprachlosen und stummgeborenen Wesen abhebt. Kein Tier schreit so unaufhörlich, nachdem es den Mutterleib verlassen hat. Nur der Mensch ist ein von Haus aus schreiendes Wesen. Und er bleibt seiner Wesensart konsequent getreu, bis zu seinem immer noch allzu späten Tode. Er schreit mit seiner gesamten Existenz. Er schreit sogar, wenn er schweigt. Er erfand ein sozusagen brüllendes Schweigen. Auch in der Kunst, auch in der Wissenschaft wird überall nur geschrien. Man schreit in Zeitschriften, Zeitungen, Journalen, denn diese sind nichts anderes als fortgesetztes, unaufhörliches öffentliches Betten- und Teppichklopfen. Auch die keuschesten Dinge werden „besprochen”. Was gibt es denn, worüber sie nicht „redeten”? Und selbst in ihren zarten Konfidenzen schreien sie sich an! Nichts, nichts fällt den Menschen schwerer als schweigend zu sterben. Und doch ist dies der ganze Inhalt ihrer „Kultur”, ist das Einzige, wodurch ein Mensch sich auszeichnen und aus dem unergründlichen Gewimmel
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/19&oldid=- (Version vom 31.7.2018)