elektrischer Wagen vorüber. Ein Bahnzug fährt über die eiserne Brücke. Quer über unser schmerzendes Haupt, quer durch unsere besten Gedanken. Das Heraufholen und Verfolgen objektiver Werte wird zur Tortur. In jede geistige, jede theoretische Schöpfung bricht lärmender Pöbel ein und das praktische „Interesse” lärmenden Pöbels. Alle seelische Kraft wird zur Überwindung dieser ewigen Spannungen verbraucht. Der Mangel an gesundem, tiefem Schlaf zerrüttet unsre Nerven. Die Möglichkeit unsrer Arbeit wurde uns zerstört, bevor wir noch zu arbeiten begannen. Alle Augenblick ein neues unangenehmes Geräusch! Auf dem Balkon des Hinterhauses werden Teppiche und Betten geklopft. Ein Stockwerk höher rammeln Handwerker. Im Treppenflure schlägt irgend jemand Nägel in eine offenbar mit Eisen beschlagene Kiste. Im Nebenhause prügeln sich Kinder. Sie heulen wie Indianer, sie trommeln an den Türen. Ein „grosses Reinemachen” steht bevor; ich fliehe aufs Dorf. Dort ist gerade „Schützenfest”. Ein Karussel wird just vor meinem Fenster aufgebaut. Dieses dreht sich acht Tage lang und spielt an jedem dieser acht Tage, acht Stunden lang das Lied von der „stummen Liebe”. Ich fliehe in das nächste Dorf. Das Wirtshaus scheint stille zu sein; aber morgen früh um fünf Uhr kommt „gerade zufällig” der Kaminkehrer. Es verfolgt mich ein Dampfpflug, das Geräusch der Tenne, das Gehämmer des Kesselschmieds, die beständige Klage des Kettenhunds, das Liebesleben aller möglichen Geschöpfe, der Katzen, der Hühner, der Frösche. Dazu klappernde Fensterläden, im Winde scheppernde, lockere Dachziegel, Wetterfahnen, Windharfen. – Es bleibt mir nichts übrig als dem Rate Multatulis zu folgen, ich werde irgendwem die Taschenuhr stehlen, um mir wenigstens Anwartschaft auf etwas Ruhe im Zellengefängnis zu verschaffen…
Lieber Leser! Begib dich in das tiefste, weltfernste Alpental, du wirst mit Sicherheit einem Grammophon begegnen. Fliehe in eine Oase der Wüste Sahara, du wirst einen Unternehmer finden, der dort einen Musikautomaten mit Glockenspiel und Trommelschlag soeben aufstellt. Du bist nicht auf den Halligen, nicht in pontinischen Sümpfen davor sicher, dass unvermutet „Ich komme vom Gebirge her” dir entgegendröhnt. Es gibt für Menschen auch in heiligster Gottesnatur kein Glück ohne Geschrei und lärmende Entäusserung! In manchen Gegenden Deutschlands, wo neuerdings starke Hotelindustrie erblüht, z. B. in Oberbayern, in Tirol, in der sächsischen Schweiz ist die Lärmverseuchung so furchtbar, dass ein ganzes Tal, hügelauf, hügelab vollgestopft ist mit Marterinstrumenten, wie Schlagzithern, Gitarren, Mandolinen und schlechten Klavieren. Überall wo Menschen gedeihen, überflüssig und zahllos
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/18&oldid=- (Version vom 31.7.2018)