von Naturwesen emporsteigen kann. Man sagt wohl, dass ihn die Sprache, oder gar dass das Tintenfass vom seelenlos-sinnlichen Vieh ihn unterscheide. Man sollte lieber sagen, dass nur Schweigen absondere. Eine tiefe Weisheit liegt darin, dass bei Homer die Trojaner mit grossem Schlachtgeschrei in den Todeskampf ziehen, während die Griechen ohne einen Laut sich in den letzten Kampf begeben.
Es ist das wichtigste Merkmal von Kultur, dass sie die „Unmittelbarkeit” seelischer Regungen unterdrückt. Betrachten wir den „unerzogenen”, „natürlichen” Menschen, dann finden wir, dass er zu allem und jedem in Sym- und Antipathien spontan „Stellung nimmt”, dass er liebend oder hassend, lustvoll und unlustvoll auf jedes Begegnis unmittelbar zu „reagieren” pflegt. Je kultivierter, erzogener dagegen der Mensch ist, um so eher wird er geneigt sein, vorsichtig sein Urteil zu „suspendieren”. Erfahrung und Urteilskraft lehren Duldung. Ehrfurcht und Scham gebieten die stete Zurückhaltung. – Das, was ich (oben) die „Vergeistigung” des Lebens genannt habe, aber auch Rationalisierung, Logisierung, Ethisierung, oder kurzweg „Kultur” hätte nennen können, äussert sich zuvörderst in der strengeren Bindung aller Impulse des Fühlens und Wollens. Das Lieben oder Hassen der Menschen wird indirekter. Die Beziehung zwischen Mensch und Mensch, wie die Beziehung zwischen dem „Subjekt” und seinem „Gegenstande” erfährt beständig wachsende „Distanzierung”. Wenn in Anfängen der Kultur Persönliches und Sachliches so eng ineinander geschmolzen sind, dass das Individuum gar nicht abzulösen wäre von zufälligen, historischen Beziehungen, in die es durch Geburt und Zufall hinein gerät, so ist auf späten Lebensstufen im Gegenteil die Spannweite zwischen dem Menschen und seiner Welt objektiver Ziele und Zwecke so gewaltig geworden, dass das „Sachliche” mit eherner Unerbittlichkeit als eine selbständige, alles Subjektiv-Gefühlsmässige ausschliessende Macht dem Menschen eisern und kalt gegenübersteht. Darum wird die Seele immer, immer einsamer. Die primitive Bildung, die überall mitten in der Natur und mitten unter Ihresgleichen lebt, formt jeden Eindruck sogleich zum Urteil, jedes Urteil sogleich zur Tat. Die Unreife ist mit allem und jedem schnell fertig. Denn es ist das gute Recht der Jugend alles danach zu bewerten, ob es ihr taugen könne oder nicht. Die Reife dagegen und in ihr das wachsende biologische Alter des Menschengeschlechts dokumentiert sich vor allem in der Fähigkeit vielseitigen Begreifens, die unter dem Gesichtspunkte der natürlichen Vitalität ebenso sehr eine praktische Gefahr, eine biologische Schwächung umschliesst, als man sie unter dem Gesichtspunkt der
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ ein mit ”1.” bezeichneter Abschnitt ist nicht vorhanden.
Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/20&oldid=- (Version vom 31.7.2018)