Er lachte. „Das bin ich auch; die Jahre, die zwischen damals und heute liegen, lebte ich nicht.“
„Aber …“ ich stockte.
„Sprichs ruhig aus: du hast mit dem Weib deiner Wahl gelebt! Niemand weiß bis heute, daß diese zwei Jahrzehnte die Hölle waren. Mein Stolz hieß mich schweigen. Ich wollte nicht, daß Mutter und Geschwister Recht behielten. Endlich kam die Erlösung: sie starb – seit vielen Monden eine arme Irre, die nichts dafür konnte, daß sie mich quälte,“ – ganz alt sah der Onkel plötzlich aus, – dann sprang er auf, schüttelte sich wie ein nasser Jagdhund und fügte lächelnd hinzu: „die Liebe ist Humbug, weißt du, echt ist allein die Natur, die Kunst, die Wissenschaft. Ich freue mich auf das Leben wie ein Student!“
Unsere Ruhetage in Tegernsee waren beinahe anstrengender als unsere Wanderungen. Von früh bis spät wimmelte es von Gästen; wenn der Onkel irgendwo jemanden traf, der ihm interessant zu sein schien, so lud er ihn ein, ohne nach Nam’ und Art viel zu fragen. Es war eine bunte Gesellschaft, die sich auf die Weise bei uns zusammenfand, denn Tegernsee selbst schien eine Art neutraler Boden zu sein, wo die heterogensten Elemente ihre Neugier nacheinander befriedigen konnten. Da gab es Prinzen echter einheimischer und zweifelhafter exotischer Art; Finanzgrößen dunkelster Herkunft; alte Diplomaten, die bei irgend einem Hofskandal Schiffbruch gelitten hatten; französische Marquisen, deren Emailleur alle vier Wochen aus Paris kam, um ihrem Antlitz die bezaubernde Frische zu verleihen, mit der sie so siegessicher auf Eroberungen ausgingen; deutsche
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/337&oldid=- (Version vom 31.7.2018)